Выбрать главу

Jeden Tag kam ihnen die gewaltige Bergkette vor ihnen größer, niemals aber auch nur einen Fußbreit näher vor, so weit sie auch geritten waren. Nach einer knappen Woche in den wärmelosen, einförmigen Öden begann Simon Sehnsucht nach dem übelberüchtigten Dimmerskog-Wald zu empfinden, ja, nach den windumtosten Gipfeln der Berge selbst – nach allem außer dieser endlosen Ebene voller Schnee, die einem das Mark in den Knochen gefrieren ließ.

Am sechsten Tag kamen sie an den Ruinen des Sankt-Skendi-Klosters vorüber. Es war fast völlig unter Schnee begraben; nur der spitze Turm der Kapelle ragte mehr als ein kleines Stück über die Oberfläche hinaus. Ein eiserner Baum, umringt von den Windungen eines schlangenartigen Tieres, krönte das verfallene Dach. Es hob sich vor ihnen aus dem frostschweren Nebel wie ein Schiff, fast versunken in einem Meer aus allerreinstem Weiß.

»Welche Geheimnisse es auch bergen mag – was immer es noch von Colmund und dem Schwert Dorn weiß –, es verbirgt sie zu gut für uns«, bemerkte Binabik, als ihre Pferde an der ertrinkenden Abtei vorbeistapften. Sludig machte das Zeichen des Baumes auf Stirn und Herz und blickte sorgenvoll, während die Sithi langsam um das Kloster herumritten und es anstarrten, als hätten sie noch nie etwas so Aufregendes gesehen.

Abends, als die Reisenden am Lagerfeuer zusammensaßen, wollte Sludig wissen, warum Jiriki und seine Begleiter soviel Zeit darauf verwendet hatten, das untergegangene Kloster zu besichtigen.

»Weil wir«, erwiderte der Prinz, »es erfreulich fanden.«

»Was soll das heißen?« fragte Sludig verärgert und verwirrt und sah zu Haestan und Grimmric hinüber, als ob sie wissen könnten, was der Sitha meinte.

»Vielleicht sollten wir lieber nicht von diesen Dingen sprechen«, bemerkte An'nai und machte mit gespreizten Fingern eine beschwichtigende Gebärde. »Wir sind Gefährten an diesem Feuer.«

Jiriki sah einen Moment feierlich in die Flammen und verzog dann das Gesicht zu einem unerwartet schalkhaften Grinsen. Simon staunte. Manchmal konnte er kaum glauben, daß Jiriki älter war als er selber, so jung und leichtsinnig schien er sich zu benehmen. Aber Simon erinnerte sich auch an die Höhle über dem Wald. Eine verwirrende Mischung aus Jugend und hohem Alter, das war Jiriki.

»Wir starren an, was uns interessiert«, erläuterte der Sitha, »wie ihr Sterblichen auch. Nur die Gründe unterscheiden sich, und ihr würdet unsere wahrscheinlich nicht verstehen.« Sein breites Lächeln schien ganz und gar freundlich, aber Simon fand einen fremden Unterton darin, etwas, das nicht dazu paßte.

»Die Frage, Nordmann«, fuhr Jiriki fort, »ist aber, warum unser Anstarren dir so mißfällt?«

Einen Augenblick senkte sich Stille über den Feuerkreis, als Sludig dem Sithiprinzen einen langen, harten Blick zuwarf. Die Flammen hüpften und prasselten im nassen Holz, und der Wind heulte, bis die Pferde unruhig von einem Fuß auf den anderen traten Sludig schlug die Augen nieder. »Natürlich könnt Ihr anschauen, was Ihr wollt«, meinte er mit traurigem Lächeln; sein blonder Bart war gefleckt von schmelzendem Schnee. »Es ist nur, weil es mich an Saegard erinnert hat – an den Skipphaven. Es war, als würdet Ihr Euch über etwas lustig machen, das mir teuer ist.«

»Skipphaven?« murmelte Haestan, tief in seine Pelze vergraben. »Nie gehört. Ist das auch eine Kirche?«

»Boote…« Grimmric verzog in nachdenklicher Erinnerung das schmale Gesicht. »Da sind Boote.«

Sludig nickte ernsthaft. »Ihr würdet ›Schiffshafen‹ sagen. Die Langschiffe von Rimmersgard liegen dort.«

»Aber Rimmersmänner fahren nicht zur See!« Haestan war überrascht. »In ganz Osten Ard klebt kein anderes Volk so am festen Land!«

»Ja, aber das war einmal anders.« Sludigs Züge glühten im Widerschein des Feuers. »Bevor wir über das Meer kamen – als wir noch in Ijsgard wohnten, im verschollenen Westen –, verbrannten unsere Väter Menschen und begruben Schiffe. Wenigstens erzählen das unsere Sagen.«

»Sie verbrannten Menschen?« fragte Simon erstaunt.

»Die Toten«, erklärte Sludig. »Unsere Väter bauten Totenschiffe aus frischem Eschenholz und steckten sie mit den Toten auf dem Wasser in Brand, damit ihre Seelen mit dem Rauch zum Himmel aufstiegen. Aber unsere großen Langschiffe, die uns über die Meere und Flüsse der Welt trugen – die Schiffe, die für uns das Leben bedeuteten wie Äcker für die Bauern und Herden für die Hirten –, diese Schiffe begruben wir in der Erde, wenn sie zu alt waren, um noch seetüchtig zu sein. Dadurch sollten ihre Seelen in die Bäume wandern und sie hoch und gerade emporwachsen lassen, damit einmal neue Schiffe daraus würden.«

»Aber du hast gesagt, daß das jenseits des Meeres war, vor langer Zeit«, wandte Grimmric ein. »Und Saegard liegt doch hier. In Osten Ard.«

Die Sithi am Feuer verharrten stumm und reglos und lauschten gespannt Sludigs Antwort.

»Ja. Dort stieß der Kiel von Elvrits Boot zum ersten Mal auf Grund, und dort sagte er: ›Wir sind über die schwarze See in eine neue Heimat gekommen.‹«

Sludig sah sich im Kreis um. »Sie haben die großen Langschiffe dort begraben. ›Nie mehr wollen wir über die See segeln, in der die Drachen hausen‹, erklärte Elvrit. Überall am Grunde des Tals, zu Füßen der Berge, liegen die Hügel der letzten Schiffe. Auf der Landzunge am Rande des Wassers, unter der größten Aufschüttung, begruben sie Elvrits Schiff Sotfengsel und ließen nur seinen hohen Mast stehen, der aus der Erde aufragte wie ein Baum ohne Äste – und das fiel mir ein, als ich das Kloster vor mir sah.«

Er schüttelte den Kopf, die Augen hell von Erinnerungen. »Auf Sotfengsels Mast wachsen Misteln. Jedes Jahr zu Elvrits Todestag sammeln junge Mädchen aus Saegard die weißen Mistelbeeren und bringen sie zur Kirche.«

Sludig verstummte. Das Feuer zischte.

»Was du nicht erzählst«, sagte Jiriki nach einer Weile, »ist, wie ihr Rimmersmänner in dieses Land kamt, nur um andere daraus zu vertreiben.«

Simon holte scharf Atem. Er hatte unter der gelassenen Miene des Prinzen etwas dieser Art vorausgesehen.

Sludig antwortete mit überraschender Sanftmut, vielleicht, weil er immer noch die frommen Jungfrauen von Saegard vor Augen hatte. »Ich kann nicht ungeschehen machen, was meine Vorfahren getan haben.«

»Daran ist etwas Wahres«, entgegnete Jiriki, »aber auch wir Zida'ya-Sithi – werden nicht mehr die gleichen Fehler machen wie unsere Verwandten vor uns.« Er richtete den grimmigen Blick auf Binabik, der ihn feierlich erwiderte. »Einige Dinge sollten zwischen uns allen klar sein, Binbiniqegabenik. Ich habe nicht mehr als die Wahrheit gesagt, als ich dir meine Gründe, euch zu begleiten, nannte: ein gewisses Interesse für euer Ziel und eine lose, ungewöhnliche Bindung zwischen dem Menschenkind und mir. Glaube aber keinen Augenblick lang, daß ich eure Furcht teile und euren Kampf unterstütze. Was mich angeht, so könnt ihr und euer Hochkönig einander gegenseitig zu Staub zermahlen.«

»Mit Respektfülle zu sagen, Prinz Jiriki«, wandte Binabik ein, »Ihr habt die volle Wahrheit nicht geprüft. Wenn es nur um den Streit sterblicher Könige und Prinzen ginge, so säßen wir jetzt alle in Naglimund, um es zu verteidigen. Ihr wißt aber sehr wohl, daß zumindest wir fünf einen anderen Zweck verfolgen.«

»Dann wisse auch das«, versetzte Jiriki steif. »Selbst wenn die Jahre, die zwischen unserer Trennung von den Hikeda'ya – die ihr Nornen nennt – und heute liegen, zahlreich sind wie Schneeflocken, sind wir doch vom selben Blut. Wie könnten wir uns auf die Seite der Menschen, der Emporkömmlinge, stellen, wenn es um unser eigenes Geschlecht geht? Warum sollten wir das tun, wenn wir doch einst mit jenen anderen unter derselben Sonne gewandelt sind, als wir aus dem äußersten Osten hierher kamen? Welche Bündnistreue könnten wir den Sterblichen schulden, die uns so eifrig vernichtet haben wie alles andere … sogar sich selbst?« Keiner der Sterblichen außer Binabik hielt seinen kalten Blick aus. Jiriki hob einen langen Finger. »Und der, den ihr im Flüsterton den Sturmkönig nennt … er, der einst Ineluki hieß…« Er lächelte bitter, als die Gefährten sich unruhig regten und ein Schauer sie überlief. »Ja, sein bloßer Name macht euch angst! Einst war er von uns allen der Beste – herrlich anzusehen, weise über alles Verständnis der Sterblichen hinaus, hell strahlend wie eine Flamme! Wenn er jetzt ein Wesen finsteren Grauens ist, kalt und voller Haß, wer trägt die Schuld daran? Wenn er heute, körperlos und rachedürstend, Pläne schmiedet, die Menschheit von seinem Land zu fegen wie man Staub von einer Buchseite wischt – warum sollten wir nicht jubeln? Nicht Ineluki war es, der uns in die Verbannung trieb, so daß wir uns unter Aldheortes dunklen Bäumen verbergen müssen wie das Wild, stets wachsam, damit man uns nicht entdeckt. Im Sonnenlicht schritten wir durch Osten Ard, bevor die Menschen kamen, und das Werk unserer Hände war köstlich unter den Sternen. Was haben die Sterblichen uns je gebracht außer Leid?«