In einem hochlehnigen Stuhl in der Zeltecke saß jemand an einem niedrigen Tisch, vor dem ein zweiter Stuhl stand; die einzigen Möbelstücke in dem riesigen, schattendunklen Zelt. Josua trat näher. Deornoth schlug den Mantel enger um sich und folgte, mehr, um nicht bei Pryrates stehenbleiben zu müssen, als weil er es eilig gehabt hätte, den König zu sehen.
Der Prinz nahm auf dem Stuhl gegenüber seinem Bruder Platz. Elias saß seltsam steif da, die Augen im Falkengesicht hell wie Edelsteine, das schwarze Haar und die blasse Stirn unter dem Ring der eisernen Hochhorstkrone. Zwischen seinen Beinen stand aufrecht ein Schwert in schwarzer Lederscheide. Die starken Hände des Hochkönigs ruhten auf dem Knauf über dem fremdartigen Doppelgriff. Obwohl er es einen Moment lang anstarrte, weigerte sich Deornoths Blick, auf dem Schwert zu verweilen; es gab ihm ein flaues Gefühl von Übelkeit, als schaue er aus großer Höhe nach unten. Statt dessen sah er wieder den König an, aber das war kaum besser; in der tödlichen Kälte des Zeltes, in dem die Luft so eisig war, daß Deornoth sein Atem als Nebel vor den Augen stand, trug Elias nur ein ärmelloses Wams, und seine weißen Arme, in denen unter der Haut die Sehnen zuckten, als führten sie ein Eigenleben, waren bis auf die schweren Armbänder nackt.
»So, Bruder«, sagte der König und fletschte die Zähne zu einem Lächeln. »Du siehst gut aus.«
»Du aber nicht«, erwiderte Josua knapp, und Deornoth sah die Sorge in seinen Augen. Irgend etwas Furchtbares stimmte hier nicht, das stand außer Zweifel. »Du hast diese Unterredung gewünscht, Elias. Was willst du?«
Die Augen des Königs wurden so schmal, daß der grüne Schatten sie verbarg. Er ließ eine lange Weile verstreichen, bevor er antwortete. »Meine Tochter. Ich will meine Tochter. Und da ist noch jemand … ein Junge … aber er ist weniger wichtig. Nein, ich will vor allem Miriamel. Wenn du sie mir auslieferst, gebe ich dir mein Wort, daß allen Kindern und Frauen in Naglimund freier Abzug gewährt wird. Wenn nicht, werden alle, die sich in seinen Mauern verstecken und mir Widerstand leisten … sterben.«
Er sagte das letzte Wort mit einem so selbstverständlichen Mangel an Bosheit, daß der hungrige Blick, der unverhüllt über sein Gesicht huschte, Deornoth zutiefst erschreckte.
»Ich habe sie nicht, Elias«, erklärte Josua langsam.
»Wo ist sie?«
»Ich weiß es nicht.«
»Lügner!« Die Stimme des Königs war so voller Zorn, daß Deornoth um ein Haar das Schwert gezogen hätte, weil er glaubte, Elias wolle vom Stuhl aufspringen. Statt dessen verharrte der König fast regungslos und winkte lediglich Pryrates, aus einer Kanne mit einer schwarzen Flüssigkeit seinen Pokal nachzufüllen.
»Halte mich nicht für einen schlechten Gastgeber, weil ich dir nichts anbiete«, sagte Elias, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte. »Ich fürchte nur, dieses Getränk würde dir nicht bekommen.« Er reichte den Becher Pryrates zurück, der ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen ergriff und auf den Tisch stellte. »Nun also«, begann Elias von neuem, »können wir uns nicht dieses nutzlose Geplänkel ersparen? Ich will meine Tochter, und ich werde sie bekommen.« Sein Ton wurde auf groteske Weise kläglich. »Hat denn ein Vater kein Recht mehr auf die Tochter, die er geliebt und großgezogen hat?«
Josua holte tief Atem. »Die Rechte, die du auf sie hast, gehen nur dich und sie etwas an. Ich habe deine Tochter nicht, und wenn ich sie hätte, würde ich sie nicht gegen ihren Willen zu dir schicken.« Hastig, bevor der König etwas entgegnen konnte, fuhr er fort. »Elias, ich bitte dich. Du warst einmal mein Bruder in allem. Unser Vater liebte uns beide, dich mehr als mich, aber unser Land liebte er noch mehr. Begreifst du denn nicht, was du tust? Nicht mit diesem Krieg allein – Ädon weiß, daß dieses Land schon manchen Streit erlebt hat. Aber da ist noch etwas anderes. Pryrates weiß, wovon ich spreche. Ich zweifle nicht, daß er es war, der zuerst deine Schritte auf diesen Pfad gelenkt hat.«
Deornoth sah, daß sich Pryrates bei diesen Worten des Prinzen umdrehte und eine überraschte Atemwolke ausstieß.
»Bitte, Elias«, fuhr Josua fort, und sein strenges Gesicht war voller Trauer. »Wende dich ab von dem Weg, den du gewählt hast, schick das verfluchte Schwert an jene Unseligen zurück, die dich und Osten Ard vergiften wollen … und ich bin bereit, mein Leben in deine Hände zu legen. Ich werde dir die Tore von Naglimund öffnen, wie eine Jungfrau dem Geliebten ihr Fenster auftut. Ich werde jeden Stein im Himmel und auf der Erde umdrehen, um Miriamel zu finden. Wirf dieses Schwert weg, Elias! Wirf es weg! Es war kein Zufall, der ihm den Namen Leid gab.«
Der König starrte Josua an wie betäubt. Pryrates, vor sich hin murmelnd, wollte auf ihn zueilen, aber Deornoth machte einen Satz und packte ihn. Unter seinem festen Griff wand sich Pryrates wie eine Schlange, und seine Berührung hatte etwas Grausiges, aber Deornoth hielt fest.
»Bewegt Euch nicht!« zischte er Pryrates ins Ohr. »Und wenn Euer Zauber mich verbrennt – bevor ich sterbe, schneide ich Euch noch den Lebensfaden durch!« Mit dem gezückten Dolch stach er in die Seite des Scharlachgewandes, eben tief genug, um bekleidetes Fleisch zu berühren. »Ihr habt Euch hier nicht einzumischen, so wenig wie ich. Das geht nur die beiden Brüder an.«
Pryrates rührte sich nicht mehr. Josua hatte sich vorgebeugt und starrte den Hochkönig an. Elias machte einen verwirrten Eindruck.
»Sie ist schön, meine Miriamel«, flüsterte er leise. »Manchmal sehe ich ihre Mutter Hylissa in ihr – armes, totes Kind!« Das Gesicht des Königs, eben noch starr und böse, wurde weich und verstört. »Wie konnte Josua das zulassen? Wie konnte er? Sie war so jung…«
Tastend streckte er die weiße Hand aus. Zu spät hielt Josua ihm die seine entgegen. Statt sie zu ergreifen, berührten die langen, kalten Finger des Königs den lederumwickelten Stumpf an Josuas rechtem Arm. Seine Augen blitzen und wurden lebendig, das Gesicht verzerrte sich zu einer starren Maske der Wut.
»Kriech zurück in dein Versteck, Verräter!« fauchte er. Josua riß den Arm zurück. »Lügner! Lügner! Bis auf den letzten Stein werde ich es niederreißen!«
Der Haß, der von dem König ausging, war so schrecklich, daß Deornoth zurücktaumelte und Pryrates sich befreien konnte.
»Ich werde dich so völlig vernichten«, donnerte Elias und wand sich in seinem Stuhl, während Josua zur Zelttür schritt, »daß Gott der Allmächtige tausend Jahre lang, suchen kann und nicht einmal deine Seele finden wird!«
Der junge Soldat Ostrael war von den Gesichtern Deornoths und des Prinzen so entsetzt, daß er den ganzen windverwehten Rückweg bis nach Naglimunds düsteren Mauern lautlos vor sich hin weinte.
XLI
Kaltes Feuer und störrischer Stein
Langsam wich der Traum, löste sich auf wie Nebel, ein schrecklicher Traum, in dem ein grünes Meer ihn umwogte und erstickte. Es gab weder Oben noch Unten, nur unbestimmtes Licht ringsum, dazu ein Heer schneidendscharfer Schatten, Haie, alle mit Pryrates' leblosen schwarzen Augen.
Als die See von ihm abglitt, kam Deornoth nach oben, ruderte mit wild fuchtelnden Armen aus dem Schlaf in trübes Halbwachsein. Kaltes Mondlicht lag in Flecken auf den Wänden der Kaserne, und der regelmäßige Atem der anderen Männer glich dem Wind in trockenen Blättern.
Noch während das Herz in seiner Brust hastig flatterte, fühlte er, wie von neuem der Schlaf nach ihm griff, ihn mit federleichten Fingern besänftigte, ohne Stimme in sein Ohr flüsterte. Nach und nach glitt er wieder hinab, der Sog des Traumes jetzt sachter als vorher. Diesmal trug es ihn an einen helleren Ort, eine Stätte morgendlicher Feuchte und milder Mittagssonne: das Landgut seines Vaters in Hewenshire, wo er mit seinen Schwestern und dem älteren Bruder bei der Feldarbeit aufgewachsen war. Ein Teil seines Ichs lag in der Kaserne – es war vor Morgengrauen, am neunten Tag des Yuven, das wußte er –, aber ein anderer Teil war zurückgereist in die Vergangenheit. Wieder roch er den Moschus aufgeworfener Erde und hörte das geduldige Knarren des Pfluggeschirrs und das taktmäßige Quietschen der Wagenräder, als der Ochse den Karren die Straße zum Markt entlangzog.