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Strangyeards Mund zuckte.

»Lies«, forderte Jarnauga ihn noch einmal auf.

Der Priester räusperte sich.

»… Und so stieg Johan hinab in die Tunnel unter dem Hochhorst – dampfende Schlote und schwitzende Gänge, erfüllt vom Atem Shurakais. Unbewaffnet bis auf Speer und Schild war er, und selbst das Leder seiner Stiefel qualmte, als er sich dem Lager des Feuerdrachen näherte; und es besteht kaum ein Zweifel, daß er soviel Angst hatte wie kaum jemals später in seinem langen Leben…«

Strangyeard hielt inne. »Was nützt uns das, Jarnauga?« Ganz in der Nähe schlug etwas dröhnend in die Erde; es klang, als sause ein Riesenhammer nieder. Strangyeard überhörte es stoisch. »Willst du … soll ich weiterlesen? Den ganzen Kampf zwischen König Johan und dem Drachen?«

»Nein.« Jarnauga winkte mit der knotigen Hand. »Nimm den letzten Absatz.«

Der Priester blätterte vorsichtig einige Blätter um.

»… Und so geschah es, daß er wieder heraustrat ans Licht, obwohl niemand mehr auf seine Rückkehr gehofft hatte. Die wenigen, die am Höhleneingang zurückgeblieben waren – auch das ein Zeichen großer Tapferkeit, denn wer konnte wissen, was vor der Tunneltür eines gereizten Drachens alles geschehen mochte? –, stießen vor lauter Freude und Erstaunen gewaltige Flüche aus – vor Freude, weil sie Johan von Warinsten lebendig aus der Höhle des Lindwurms wiederkehren sahen, und vor Erstaunen über die riesige Klaue, mit purpurnen Schuppen und krummen Krallen, die er über der blutenden Schulter trug. Und als sie ihm laut rufend voraneilten und sein Pferd im Triumph durch die Tore von Erchester führten, kamen die Menschen an die Fenster und auf die Straßen gelaufen und glotzten ihn an. Manche sagen, daß diejenigen, die Johan am lautesten ein schreckliches Ende und für sich selber die furchtbarsten Folgen der Tat des jungen Ritters prophezeit hatten, ihm jetzt für seine Heldentat am eifrigsten Beifall spendeten. Als sich die Nachricht verbreitete, waren die Gassen im Nu von jubelnden Bürgern gesäumt, die Johan Blumen streuten, als er vorbeiritt, Hellnagel hoch erhoben wie eine brennende Fackel, quer durch die Stadt, die fortan die seine war…«

Seufzend legte Strangyeard die Blätter der Handschrift sanft in das Zedernholzkästchen zurück, in dem er sie aufbewahrte. »Eine wunderbare und erschreckende Geschichte, würde ich sagen; und Morgenes, hmmm, ja, er formuliert es großartig, aber was nützt es uns? Ohne Mangel an Respekt, verstehst du.«

Jarnauga schielte auf seine eigenen, hervortretenden Knöchel und legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht. Da ist etwas – irgend etwas steckt in dieser Geschichte. Ob mit Absicht oder nicht, Doktor Morgenes hat etwas darin verborgen. Himmel und Wolken und Steine! Ich kann es fast mit Händen greifen! Ich komme mir vor, als wäre ich blind!«

Wieder flutete ein Schwall von Lärm durch das Fenster, laute, besorgte Rufe, dann das Klirren schwerer Rüstungen, als draußen ein Trupp Wachsoldaten über den Burganger rannte.

»Ich glaube nicht, daß uns noch viel Zeit zum Grübeln bleibt, Jarnauga«, sagte Strangyeard endlich.

»Ich auch nicht«, bestätigte der Alte und rieb sich die Augen.

Den ganzen Nachmittag brandete die Flut von König Elias' Heer gegen Naglimunds steinige Klippen. Das matte Sonnenlicht schlug glitzernde Spiegelscherben aus poliertem Metall, als Welle auf Welle gepanzerter und behelmter Soldaten die Leitern hinaufströmte, heldenhaft abgewehrt von den Verteidigern. Hier und da fand die Streitmacht des Königs für kurze Zeit eine Lücke in dem Ring finsterer Männer und störrischer Steine, wurde aber immer wieder zurückgeschlagen. Der dicke Ordmaer, Baron von Utersall, stopfte für lange Minuten ganz allein eine dieser Breschen, kämpfte Hand gegen Hand mit den Soldaten, die von unten die Leitern emporkletterten, erschlug vier von ihnen und hielt die übrigen auf, bis Hilfe kam, obwohl er selbst dabei tödlich verwundet wurde.

Es war Prinz Josua persönlich, der einen Wachtrupp zu ihm führte, den Mauerabschnitt sicherte und die Leitern zerstörte. Josuas Schwert Naidel war ein Sonnenstrahl, der durch Blätter tanzt, so geschwind sauste es hin und her und verwandelte lebende Männer in tote, während die Angreifer unhandliche Breitschwerter oder viel zu kurze Dolche schwangen.

Der Prinz weinte, als man Ordmaers Leiche fand. Die beiden waren keine Freunde gewesen, aber Ordmaer war gestorben wie ein Held, und im Pulsschlag der Schlacht erschien sein Sterben Josua plötzlich wie ein Sinnbild des Todes überhaupt – des Todes aller dieser Spießkämpfer und Bogenschützen und Fußsoldaten auf beiden Seiten, die jetzt unter dem kalten, wolkigen Himmel in ihrem Blute lagen und starben. Der Prinz befahl, den großen, schlaffen Körper des Barons in die Burgkapelle hinunterzutragen. Leise fluchend gehorchten seine Männer.

Als die rot gefärbte Sonne auf den westlichen Horizont zukroch, schien König Elias' Heer nachzulassen, der Ansturm schwächer zu werden: Die Versuche, durch die herunterzischenden Pfeilsalven die Belagerungsmaschinen an die Vormauer heranzuschieben, wirkten allmählich halbherzig, und beim ersten Widerstand von oben fingen die Hinaufkletternden an, ihre Leitern im Stich zu lassen. Schwer fiel es Erkynländern, Erkynländer zu töten, selbst auf Befehl des Hochkönigs, und noch schwerer, wenn die eigenen erkynländischen Brüder fochten wie in die Enge getriebene Dachse.

Bei Sonnenuntergang tönte aus den Zeltreihen ein klagender Hornruf über das Schlachtfeld, und Elias' Truppen begannen sich zurückzuziehen. Die Verwundeten und viele ihrer Toten nahmen sie mit, die mit Tierhäuten bedeckten Belagerungsmaschinen und die Sicherheitskästen der Mineure ließen sie für die Angriffe des nächsten Morgens stehen. Wieder erklang das Horn und die Trommeln wurden geschlagen, laut und wie um die Verteidiger daran zu erinnern, daß das riesige Heer des Königs gleich dem grünen Ozean wieder und immer wieder seine Wellen gegen sie anbranden lassen könne. Irgendwann, schienen die Trommeln zu verkünden, müßte selbst der hartnäckigste Stein zerbröckeln.

Die Belagerungstürme, die vor den Mauern aufragten wie einsame Obelisken, waren eine weitere unübersehbare Erinnerung daran, daß Elias wiederkommen würde. Die feuchten Häute, die sie bedeckten, schützten sie vor Schaden durch bloße Brandpfeile, aber darüber hatte sich Eadgram, der Oberste der Wachen, schon den ganzen Tag Gedanken gemacht. Er hatte sich bei Jarnauga und Strangyeard Rat geholt und schließlich einen Plan ersonnen.

Noch während die letzten Angreifer den Hang hinab auf ihr Feldlager zuhinkten, ließ Eadgram von seinen Schützen mit Öl gefüllte Weinschläuche auf die Wurfarme der beiden kleinen Steinschleudern von Naglimund laden. Sobald die Arme hochschnellten, sausten die Ölsäcke über das freie Feld vor den Mauern und zerplatzten an der Lederverkleidung der Türme. Danach war es nicht schwer, ein paar Brandpfeile mit pechgetränkten Spitzen durch die blaue Dämmerung zu schicken. Sekunden später hatten sich die vier gewaltigen Türme in lodernde Fackeln verwandelt.

Die Männer des Königs konnten nichts tun, um das Feuer zu löschen. Als das orangerote Licht über den Zinnen flackerte, klatschten die Verteidiger auf den Wällen in die Hände und stampften und riefen, erschöpft, aber ermutigt.

Als der König, in seinen weiten, schwarzen Mantel gehüllt, wie eine Schattengestalt aus dem Lager hervorritt, spotteten die Verteidiger von Naglimund. Als er sein unheimliches Schwert hob und wie ein Wahnsinniger nach Regen schrie, der die feurigen Türme löschen sollte, lachten sie unbehaglich. Erst nach einer ganzen Weile, während der Elias hin und her ritt und sein kohlschwarzer Umhang im kalten Wind wehte, erkannten sie allmählich aus dem furchtbaren Zorn in seiner Stimme, daß der König wirklich erwartet hatte, der Regen, den er gerufen hatte, werde auch kommen, und daß er außer sich vor Wut war, weil das nicht geschehen war. Das Gelächter wurde zu angstvollem Schweigen. Einer nach dem anderen hörten die Verteidiger von Naglimund auf zu jubeln und stiegen von den Mauern, um ihre Wunden versorgen zu lassen. Schließlich hatte die Belagerung kaum begonnen. Eine Unterbrechung war nicht in Sicht, und keine Ruhe diesseits des Himmels.