»Ich habe schon wieder diese seltsamen Träume, Binabik.«
Simon hatte sein Pferd neben Qantaqa gelenkt, dem Rest der Gesellschaft ein paar Meter voraus. Es war ein klarer, aber schneidend kalter Tag, ihr siebter auf dem Ritt über die Weiße Wüste.
»Was für Träume?«
Simon rückte die Maske zurecht, die der Troll ihm gefertigt hatte, einen Fellstreifen mit Schlitzen zum Schutz vor dem grellen Glitzern des Schnees. »Vom Grünengel-Turm … es kann auch ein anderer Turm sein. Letzte Nacht habe ich geträumt, er wäre blutüberströmt.«
Binabik spähte unter seiner eigenen Maske hervor und deutete auf einen dünnen, grauen Streifen, der sich am Horizont am Fuß der Berge entlangzog. »Das, ich bin sicher, ist der Rand des Dimmerskogs – oder des Qilakitsoq, wie mein Volk ihn treffender nennt: des Schattenwaldes. Wir müßten ihn in ein bis zwei Tagen erreicht haben.«
Simon starrte den öden Streifen an und fühlte, wie ohnmächtige Wut in ihm kochte.
»Der verdammte Wald ist mir scheißegal«, bemerkte er giftig, »und Eis und Schnee und immer wieder Eis und Schnee hängen mir zum Hals heraus. Wir werden in dieser gräßlichen Wildnis erfrieren und sterben! Und was ist mit meinen Träumen?«
Der Troll hüpfte einen Moment auf Qantaqas Rücken mit, als die Wölfin über eine Reihe kleiner Schneewehen hinwegsetzte. Durch den Gesang des Windes konnte man Haestan hören, der jemandem etwas zurief.
»Ich bin bereits erfüllt von Sorgen«, verkündete Binabik gemessen, als wolle er seine Rede dem Rhythmus ihres Vorwärtskommens anpassen. »Wach lag ich in Naglimund zwei Nächte und quälte mich, welchen Schaden ich verursachen würde, wenn ich dich auf diese Reise mitnähme. Ich weiß nicht, was deine Träume bedeuten, und die einzige Art, es herauszufinden, wäre es, auf der Straße der Träume zu gehen.«
»Wie damals bei Geloë?«
»Aber ohne Hilfe habe ich kein Vertrauen in meine Kraft dazu – nicht hier, nicht jetzt. Es ist möglich, daß deine Träume uns Hilfe bringen könnten, aber dennoch scheint es mir unklug, jetzt die Traumstraße aufzusuchen. Ich kann nur sagen, daß ich getan habe, was mir am besten schien.«
Simon dachte brummend darüber nach. Hier sind wir jetzt. Binabik hat recht. Wir sind jetzt alle hier, viel zu weit, um noch zurückzukönnen.
»Ist Inelu…«, mit Fingern, die nicht allein vor Kälte zitterten, schlug er das Zeichen des Baumes, »ist der Sturmkönig … der Teufel?« fragte er endlich.
Binabik zog die Stirn in tiefe Falten.
»Der Teufel? Der Feind eures Gottes? Warum fragst du das? Du hast Jarnaugas Worte gehört – du weißt, was Ineluki ist.«
»Ja, schon.« Ihn schauderte. »Es ist nur … ich sehe ihn in meinen Träumen. Jedenfalls glaube ich, daß er es ist. Rote Augen, das ist eigentlich alles, was ich erkenne, alles andere ist schwarz … wie verkohlte Scheite, in denen man noch glühende Stellen sieht.« Beim bloßen Gedanken daran wurde ihm übel.
Der Troll, die Hände in der Halskrause der Wölfin vergraben, zuckte die Achseln. »Er ist nicht euer Teufel, Freund Simon. Aber trotzdem ist er etwas Böses, oder zumindest glaube ich, daß das, was er will, für uns alle Böses bedeutet. Das ist schlimm genug.«
»Und … der Drache?« fragte Simon nach einer Weile zögernd. Binabik drehte scharf den Kopf und sah ihn aus seltsamen geschlitzten Augen an.
»Drache?«
»Der auf dem Berg lebt. Dessen Namen ich nicht aussprechen kann.«
Binabik lachte laut auf; sein Atem war wie eine Wolke. »Igjarjuk ist sein Name. Tochter der Berge, viele Sorgen hast du, junger Freund! Teufel! Drachen!« Mit dem Finger seines Handschuhs fing er eine Träne auf und hielt sie in die Höhe. »Schau her!« lachte er. »Als ob es nötig wäre, noch mehr Eis zu machen!«
»Aber es war ein Drache da!« versetzte Simon hitzig. »Alle haben es gesagt.«
»Vor langer Zeit, Simon. Es ist ein verrufener Ort, aber ich denke, daß das vor allem auf seine Abgelegenheit zurückzuführen ist. Die Legenden der Qanuc erzählen, daß dort einst ein riesiger Eiswurm lebte, und mein Volk meidet den Ort, aber ich glaube, daß er heutzutage wahrscheinlich nur ein Schlupfwinkel für Schneeleoparden und ähnliches Getier ist. Das heißt nicht, daß es dort nichts Gefährliches gäbe. Die Hunen, wie wir sehr wohl wissen, treiben sich neuerdings überall herum.«
»Heißt das dann, daß ich in Wirklichkeit gar keine Angst zu haben brauche? Nachts gehen mir immer die schrecklichsten Dinge durch den Kopf.«
»Ich habe nicht gesagt, daß du keine Angst zu haben brauchst, Simon. Wir dürfen nie vergessen, daß wir Feinde haben; und manche von ihnen scheinen in der Tat große Macht zu besitzen.«
Wieder eine kalte Nacht in der Öde; wieder ein Lagerfeuer in der dunklen Leere der Schneefelder. Nichts auf der ganzen Welt wäre Simon lieber gewesen, als zusammengerollt in Naglimund im Bett zu liegen, unter Decken versteckt, und wenn auch die blutigste Schlacht in der ganzen Geschichte von Osten Ard unmittelbar vor seiner Tür getobt hätte. Er war überzeugt, wenn jetzt jemand käme und ihm einen warmen, trockenen Schlafplatz anböte, würde er lügen oder töten oder Usires' Namen unnützlich führen, nur um diesen Platz zu ergattern. Er saß da, in seine Satteldecke gewickelt, damit die Zähne nicht so klapperten, und war ganz sicher, er könnte fühlen, wie ihm die Wimpern an den Lidern festfroren.
In der endlosen Finsternis hinter dem schwachen Schein des Feuers jappten und heulten die Wölfe und führten lange und klagende, komplizierte Gespräche miteinander. Vor zwei Nächten, als die Gesellschaft zum ersten Mal ihren Gesang vernommen hatte, war Qantaqa den ganzen Abend nervös um das Lagerfeuer herumgestrichen. Inzwischen hatte sie sich an das nächtliche Rufen ihrer Artgenossen gewöhnt und reagierte nur manchmal mit einem bedrückten Winseln.
»W-warum s-sagt sie ihnen nicht auch mal w-was?« erkundigte Haestan sich besorgt. Als Mann der Ebenen des erkynländischen Nordens liebte er die Wölfe ebenso wenig wie Sludig, obwohl er für Binabiks Reittier fast so etwas wie Zuneigung entwickelt hatte. »W-warum erklärt sie ihnen nicht, s-sie s-sollten weggehen und andere Leute quälen?«
»So wie die Menschen leben auch nicht alle, die zu Qantaqas Art gehören, in Frieden miteinander«, erwiderte Binabik, was für niemanden eine Beruhigung darstellte.
Heute abend tat die große Wölfin tapfer ihr Bestes, das Heulen nicht zu beachten, indem sie zu schlafen vorgab – aber sie verriet sich, als sie die gespitzten Ohren den lauter werdenden Rufen zudrehte. Das Wolfslied, fand Simon, als er sich fester in seine Decke kauerte, war so ziemlich der einsamste Klang, den er je gehört hatte.
Warum bin ich nur hier? fragte er sich grübelnd. Warum sind wir alle hier? In diesem grauenhaften Schnee suchen wir nach einem Schwert, an das seit Jahren überhaupt niemand mehr gedacht hat. Inzwischen sitzen die Prinzessin und alle anderen Leute in der Burg und warten darauf, daß der König sie angreift. Hirnverbrannt! Binabik ist im Gebirge, im Schnee, aufgewachsen – Grimmric, Haestan und Sludig sind Soldaten – was die Sithi wollen, weiß Ädon allein. Aber wieso bin ich hier? Welche Dummheit!
Das Heulen verstummte. Ein langer Zeigefinger berührte Simons Hand. Er fuhr vor Schreck zusammen.
»Lauschst du den Wölfen, Seoman?« erkundigte sich Jiriki.
»D-das ist schwer zu vermeiden.«
»Sie singen solch wilde Lieder.« Der Sitha schüttelte den Kopf. »Und gleichen euch Sterblichen. Sie singen davon, wo sie gewesen sind und was sie gesehen und gewittert haben. Sie erzählen einander, wo die Elche ziehen und wer sich mit wem gepaart hat, aber meistens rufen sie nur Ich bin! Hier bin ich!« Jiriki lächelte mit verschleierten Augen und beobachtete das verglimmende Feuer.