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»Und Ihr g-glaubt, das w-würden auch w-wir Sterblichen sagen?«

»Mit Worten und ohne Worte«, erwiderte der Prinz. »Du mußt versuchen, es mit unseren Augen zu sehen. Den Zida'ya kommt euer Geschlecht oft wie Kinder vor. Ihr seht, daß die langlebigen Sithi nicht schlafen, daß wir die lange Nacht der Geschichte hindurch wach bleiben. Ihr Menschen wollt, wie die Kinder, mit den Älteren am Feuer aufbleiben, um die Lieder und Geschichten zu hören und dem Tanz zuzuschauen.« Er machte eine Gebärde, als sei die Dunkelheit ringsum voller unsichtbarer Festgäste.

»Aber das könnt ihr nicht, Simon«, fuhr er freundlich fort. »Ihr dürft nicht. Eurem Volk wurde die Gabe des letzten Schlafes verliehen, so wie es unserer Art gegeben ist, die ganze Nacht unter den Sternen zu wandeln und zu singen. Vielleicht liegt sogar in euren Schlafträumen ein Reichtum, den wir Zida'ya nicht verstehen.«

Die Sterne am schwarzen Kristallhimmel schienen davonzugleiten und tiefer in der weiten Nacht zu versinken. Simon dachte an die Sithi und ein Leben, das kein Ende hatte, und konnte sich nicht vorstellen, wie das sein mochte. Eiskalt bis ins Mark – bis in die Seele, so schien es ihm – beugte er sich dichter zum Feuer und zog die feuchten Fausthandschuhe aus, um seine Hände zu wärmen.

»Aber auch die S-sithi können sterben, n-nicht w-wahr?« erkundigte er sich vorsichtig und verfluchte sein vom Frost verursachtes Gestotter.

Jiriki neigte sich zu ihm. Seine Augen waren schmal geworden. Einen entsetzten Moment glaubte Simon, der Sithi wolle ihn seiner dreisten Frage wegen schlagen. Statt dessen griff Jiriki nach Simons zitternder Hand und hielt sie schräg.

»Dein Ring«, sagte er und starrte auf den fischförmigen Schnörkel darauf. »Ich hatte ihn noch nicht bemerkt. Von wem hast du ihn?«

»Von m-meinem … m-meinem M-meister, k-könnte m-man wohl sagen«, stammelte Simon. »D-doktor M-morgenes vom Hochhorst. Er hat ihn mir nachgeschickt, zu Binabik.« Der kühle, kräftige Griff der Hand des Sithiprinzen verwirrte ihn, aber er wagte sich nicht daraus zu lösen.

»Dann gehörst du zu denen deiner Rasse, die das Geheimnis kennen?« fragte Jiriki und musterte ihn scharf. Die Tiefe seiner goldenen Augen, denen der Feuerschein die Farbe von Rost gab, war erschreckend.

»G-geheimnis? N-n-nein! Nein, ich k-kenne k-kein Geheimnis.«

Jiriki starrte ihn an und hielt ihn mit seinen Augen so fest, als hätte er Simon mit beiden Händen am Kopf gepackt.

»Aber warum gab er dir dann den Ring?« fragte Jiriki hauptsächlich sich selber und ließ kopfschüttelnd Simons Hand los. »Und ich selbst gab dir einen Weißen Pfeil! Wahrlich, einen seltsamen Weg haben die Ahnen uns geführt.« Er drehte sich um und starrte in das schwach flackernde Feuer. Simons Fragen wollte er nicht beantworten.

Geheimnisse, dachte Simon erbost, noch mehr Geheimnisse! Binabik hat welche. Morgenes hatte welche. Und die Sithi sind voll davon! Ich habe alle Geheimnisse satt. Warum hat man gerade mich für diese Art von Bestrafung ausgesucht? Warum will mir jeder dauernd seine blöden Geheimnisse aufdrängen?

Er weinte eine Weile lautlos vor sich hin, umarmte zitternd seine Knie und wünschte sich lauter unmögliche Dinge.

Am Nachmittag des nächsten Tages erreichten sie die östlichen Ausläufer des Dimmerskogs. Obwohl ein dichter weißer Schneemantel den Forst bedeckte, schien er trotzdem das zu sein, was Binabik von ihm gesagt hatte: ein Ort der Schatten. Die Gesellschaft trat nicht unter sein Dach und hätte es vielleicht nicht einmal getan, wenn ihr Weg in diese Richtung geführt hätte, so bedrohlich war die Stimmung, die von dem Wald ausging. Die Bäume wirkten trotz ihrer Größe – und es waren Riesen unter ihnen – zwergwüchsig und verkrüppelt, als krümmten sie sich verbittert unter ihrer Last aus benadelten Ästen und Schnee. Die Durchlässe zwischen den schiefen Stämmen schienen aberwitzig gewunden und ähnelten von einem riesenhaften, berauschten Maulwurf gegrabenen Tunneln, die am Ende in gefährliche, rätselhafte Tiefen führten.

Simon, der fast lautlos an ihnen vorüberritt – nur die Hufe seines Pferdes knirschten leise im Schnee –, stellte sich vor, er folge den gähnenden Pfaden in die von Borkensäulen getragenen, weiß überdachten Hallen des Dimmerskogs, bis er endlich – wohin kam? Was mochte dort drinnen liegen? Vielleicht das dunkle, heimtückische Herz des Waldes, ein Ort, an dem die Bäume miteinander einatmeten und – schuppig Ast an Ast reibend – endlose Gerüchte weitergaben oder durch Zweige und gefrorene Blätter boshaften Wind ausatmeten?

Auch in dieser Nacht lagerten sie im Freien, obwohl sich ganz in ihrer Nähe der Dimmerskog duckte wie ein schlafendes Tier. Aber keiner wollte die Nacht unter den Ästen des Waldes verbringen, vor allem Sludig nicht, der mit Geschichten über die gräßlichen Wesen aufgewachsen war, die in den bleichen Gängen zwischen den Bäumen lauerten. Den Sithi schien es nichts auszumachen, aber auch Jiriki war einen Teil des Abends damit beschäftigt, sein schwarzes Hexenholzschwert zu ölen. Wieder kauerte die kleine Schar um ein ungeschütztes Feuer, und den ganzen langen Abend wehte der messerscharfe Ostwind über sie hin, ließ überall große Springbrunnen aus Schnee in die Höhe schießen und spielte in den Wipfeln des Dimmerskogs. Als sie sich schlafen legten, umgab sie das knarrende Geräusch des Waldes und der vom Wind gepeitschten Äste, die sich aneinander rieben.

Zwei weitere langsame Tagesritte führten sie um den Wald herum und über das letzte Stück offener eisiger Fläche an die Ausläufer des Gebirges heran. Die Landschaft war eintönig, und die Schneekruste glitzerte im grellen Tageslicht, bis Simon vom Zusammenkneifen der Augen Kopfweh bekam; aber es schien etwas wärmer zu werden. Zwar fiel immer noch Schnee, aber der beißende Wind drang nicht mehr so durch Mantel und Überrock wie draußen vor dem breiten Windschatten der Berge.

»Seht!« rief Sludig und deutete nach dem abschüssigen Vorfeld des Gebirges.

Zuerst sah Simon nur die allgegenwärtigen schneebedeckten Felsen und Bäume. Dann, als sein Blick die Reihe der niedrigen Hügel im Osten entlangglitt, erkannte er eine Bewegung. Zwei merkwürdig aussehende Gestalten – oder waren es vier, sonderbar vermischt? – zeichneten sich auf der eine Achtelmeile entfernten Kammhöhe ab.

»Wölfe?« fragte er beunruhigt.

Binabik ritt mit Qantaqa aus der Gruppe der anderen heraus, bis beide sich deutlich vom Rest abhoben. Dann nahm er die hohlen Hände in ihren Handschuhen zum Mund. »Yah aqonik mij'ayah nu tutusiq, henimaatuq?« rief er. Seine Worte hallten kurz wider und erstarben dann in den weißverhüllten Hügeln. »Eigentlich sollte man hier nicht rufen«, flüsterte er dem verwirrten Simon zu. »Weiter oben könnte es Lawinen auslösen.«

»Aber wen rufst du?«

»Sch.« Binabik winkte mit der Hand. Sofort kamen die Gestalten ein Stückchen den Kamm herunter und auf die Gefährten zu. Jetzt merkte Simon, daß es sich um zwei kleine Männer handelte, die auf zottigen, krummgehörnten Widdern saßen. Trolle!

Einer von ihnen antwortete. Binabik hörte aufmerksam zu und drehte sich dann lächelnd zu seinen Kameraden um.

»Sie wünschen zu wissen, wohin wir reisen, und ob das nicht ein fleischfressender Rimmersmann ist, den wir bei uns haben, und ob er unser Gefangener sei?«

»Hol sie der Teufel!« knurrte Sludig. Binabiks Lächeln wurde breiter, und er sah wieder nach dem Kamm hinauf.

»Binbiniqegabenik ea sikka!« schrie er. »Uc sikkan mo-hinaq da Yijarjuk!«

Die beiden runden Köpfe in den Pelzkapuzen sahen ihn einen Augenblick an, verständnislos wie von der Sonne geblendete Eulen. Gleich darauf schlug sich der eine mit der Hand auf die Brust, während der andere mit dem Arm einen weiten Kreis beschrieb. Sie rissen ihre Tiere herum und galoppierten in einer Wolke von Pulverschnee den Kamm hinauf und davon.