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Das eisige Antlitz des Berges selbst war von schmerzhafter Schönheit.

Simon hatte sich im Traum nicht vorgestellt, daß Eis Farbe haben könnte; die zahme Sorte, die er kannte, die zur Ädonzeit die Dächer des Hochhorstes mit Girlanden verzierte und im Jonever die Brunnen bedeckte, war diamantklar oder von milchigem Weiß. Im Gegensatz dazu erschien ihm der Eispanzer des Urmsheim, vom Wind und der scheinbar fernen Sonne verformt, verzerrt, uneben, wie ein Traumbild voller Farben und fremdartiger Gebilde. Große Eistürme, von seegrünen und violetten Adern durchzogen, ragten weit über die Köpfe der mühsam Kletternden hinaus. An anderen Stellen waren die Eisklippen abgebrochen und in Kristallbrocken zerfallen, mit edelsteinartigen, rauhen Kanten, in stürmischem Blau geätzt, die in mosaikhafter Verwirrung durcheinanderlagen wie die zurückgelassenen Steinblöcke eines Riesenbaumeisters. Ein Stück weiter standen die schwarzen Gebeine zweier erfrorener, längst abgestorbener Bäume wie im Stich gelassene Posten am Eingang einer in weißen Nebel gehüllten Spalte. Die Sonne hatte die Eiswand, die zwischen ihnen entstanden war, pergamentdünn geschmolzen, so daß die mumifizierten Bäume Torpfosten zum Himmel zu sein schienen, das Eis zwischen ihnen ein schimmernder, vergänglicher Fächer, der das Tageslicht in einen glühenden Regenbogen aus rubin- und nektarinenrotem Licht auflöste, goldene, lavendelblaue und blaßrosige Strudel, von denen Simon überzeugt war, daß neben ihnen selbst die berühmten Fenster der Sancellanischen Ädonitis so stumpf wie Teichwasser und Kerzenwachs aussehen würden.

Doch noch während seine strahlende Oberfläche ihre Augen betörte, schmiedete das kalte Herz des Berges finstere Pläne gegen die ungebetenen Gäste. Am späten Nachmittag des ersten Tages, während Simon und seine sterblichen Gefährten sich noch an den ungewohnt bedächtigen Schritt zu gewöhnen versuchten, den ihnen Binabiks Schuhdorne aufzwangen (die Sithi, die solche Hilfsmittel verachteten, kletterten trotzdem fast genauso langsam und vorsichtig wie die anderen), verdunkelte sich der Himmel so jäh und vollständig wie ein Löschblatt, über das man Tinte schüttet.

»Hinlegen!« schrie Binabik gellend, während Simon und die beiden Erkynländer noch neugierig auf die Stelle starrten, an der eben noch die Sonne am Himmel gestanden hatte. Hinter Haestan und Grimmric hatte Sludig sich bereits in den harten Schnee geworfen. »Flach auf den Boden!« brüllte der Troll. Haestan zerrte Simon nach unten.

Noch während er sich fragte, ob Binabik weiter vorn auf dem Pfad etwas Gefährliches gesehen hätte – und wie es dann um die beiden Sithi stand, die schon hinter der Biegung verschwunden waren, die der Pfad um einen Teil der südöstlichen Flanke des Urmsheim machte –, hörte Simon, wie sich das Geräusch des Windes, seit Stunden ein leises, stetiges Pfeifen, zum Aufkreischen steigerte. Er spürte ein Zupfen, dann ein heftiges Zerren und grub durch den Pulverschnee die Finger in das darunterliegende Packeis. Gleich darauf drang ihm krachend ein Donnerschlag in beide Ohren. Das erste Dröhnen hallte noch unten im Tal wider, als ihn bereits ein zweites schüttelte wie Qantaqa eine gefangene Ratte. Wimmernd krallte er sich am Boden fest, während die Knochenfinger des Windes ihn zerkratzten und über ihm immer wieder der Donner rollte, als sei der Berg, an den sie sich klammerten, der Amboß eines ungeheuren und entsetzlichen Schmiedes.

Das Gewitter hörte so übergangslos auf, wie es eingesetzt hatte. Noch lange Minuten, nachdem das Schreien des Windes sich gelegt hatte, verharrte Simon dort, wo er lag, die Stirn gegen den eisigen Boden gepreßt. Als er sich endlich aufsetzte, summte es ihm in den Ohren. Aus den Tintenklecksen der Wolken tauchte die weiße Sonne auf. Hinter ihm saß Haestan, verstört wie ein Kind, mit blutender Nase, den Bart voller Schnee.

»Bei Ädon!« fluchte er. »Beim leidenden, geschundenen, sorgenden Ädon und Gott dem Allerhöchsten!« Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und starrte töricht auf den blutigen Streifen auf seinem Pelzhandschuh. »Was …?«

»Ein Glück, daß wir auf einer breiten Stelle des Pfades standen«, sagte Binabik und richtete sich auf. Obwohl auch er voller Schnee war, sah er beinahe fröhlich aus. »Die Gewitter kommen hier schnell.«

»Schnell…« murmelte Simon und blickte nach unten. Er hatte den Knöchel seines rechten Stiefels mit den Dornen durchbohrt, die an den linken geschnallt waren, und es stach so, daß es bestimmt untendrunter blutete.

Einen Augenblick später erschien Jirikis schlanke Gestalt an der Wegbiegung.

»Habt ihr jemanden verloren?« schrie er. Als Binabik zurückrief, alle seien in Sicherheit, grüßte der Sitha spöttisch zu ihm herüber und verschwand wieder.

»Ich sehe keinen Schnee an ihm«, bemerkte Sludig unfreundlich.

»Berggewitter sind sehr schnell«, erwiderte der Troll. »Aber Sithi auch.«

Die Gruppe verbrachte die erste Nacht im Hintergrund einer flachen Eishöhle an der Ostwand des Berges. Die Außenkante des schmalen Pfades war nur fünf oder sechs Ellen von ihnen entfernt, und dahinter wartete der schwarze Abgrund. Simon saß da und schlotterte in der alles durchdringenden Kälte, von Jirikis und An'nais leisem Singen zwar getröstet, aber nicht gewärmt, und ihm fiel etwas ein, das einst, mitten in einem schläfrigen Nachmittag, Doktor Morgenes zu ihm gesagt hatte, als Simon sich über das Leben im überfüllten, kein Alleinsein gestattenden Dienstbotenflügel beklagte.

»Nimm dir nie einen Ort als Heimat«, hatte der alte Mann erklärt, in der Frühlingswärme zu faul, um mehr als einen Finger zu heben. »Such dir eine Heimat in deinem eigenen Kopf. Das, was du dazu brauchst – Erinnerungen, Freunde, denen du vertrauen kannst, Liebe zum Lernen und anderes mehr – wirst du schon finden.« Morgenes hatte gegrinst. »Auf diese Art wird deine Heimat dich begleiten, wohin es dich auch verschlägt. Nie brauchst du darauf zu verzichten – solange du nicht den Kopf verlierst, natürlich…«

Simon wußte immer noch nicht so ganz, was der Doktor gemeint hatte; eigentlich war er sicher, daß er sich nichts sehnlicher wünschte, als wieder eine Heimat zu haben. Schon nach einer Woche war ihm Vater Strangyeards kahles Zimmer in Naglimund fast so vorgekommen. Dennoch war etwas Romantisches an der Vorstellung, auf freier Straße zu leben und seine Heimat dort zu finden, wo man gerade Rast machte, wie ein Hyrka-Pferdehändler. Doch war er auch zu anderem bereit. Langsam hatte er den Eindruck, schon seit Jahren unterwegs zu sein – wie lange war es eigentlich in Wirklichkeit?

Als er anhand der Mondwechsel sorgfältig zurückgerechnet hatte, dort, wo er sich nicht mehr recht erinnern konnte, mit Binabiks Hilfe, war er völlig verdutzt, als er feststellte, daß es … weniger als zwei Monate waren! Erstaunlich, aber wahr: der Troll bestätigte seine Vermutung, daß drei Yuven-Wochen vergangen waren, und Simon wußte genau, daß seine Reise in jener unheilvollen Steinigungsnacht begonnen hatte – in den letzten Stunden des April. Wie sich in diesen sieben Wochen doch die Welt verändert hatte! Und, dachte er dumpf, als er taumelnd in Schlaf sank, überwiegend zum Schlechteren.

Am späten Morgen kletterten die Männer gerade über eine massive Eisscholle, die von der Schulter des Berges abgeglitten war und jetzt wie ein riesiges weggeworfenes Paket quer über ihrem Pfad lag, als Urmsheim zum zweiten Mal zuschlug. Mit einem gräßlichen, mahlenden Geräusch verfärbte sich ein langer Keil der Eisscholle von Blaugrau zu Weiß und brach ab. Er rutschte Grimmric unter den Füßen weg und stürzte zerbröckelnd den Berg hinunter. Dem Erkynländer blieb nur noch Zeit zu einem kurzen, überraschten Aufschrei. Eine Sekunde später torkelte er in die Spalte, die der Keil hinterlassen hatte, und war verschwunden. Noch ehe Simon einen Gedanken fassen konnte, merkte er, wie Grimmrics Sturz ihn nach vorn riß. Er stolperte und streckte verzweifelt die Hand aus, um sich an der Eiswand festzuhalten, aber die schwarze Spalte kam immer näher. In hilflosem Entsetzen sah er durch den Riß des Pfades einen dünnen Streifen leere Luft und darunter die unbestimmten Umrisse der eine halbe Meile tiefer liegenden Klippen. Er schrie und merkte, daß er weiter rutschte. Vergeblich krallten sich seine Finger in den eisglatten Pfad.