»Dieser Spiegel ist uralt«, fuhr er dann fort. »Er soll eine Schuppe des Urwurmes sein.«
»Was bedeutet das?«
»Der Urwurm, das ist der Wurm, von dem es in vielen Sagen heißt, er ringele sich um die Welt. Wir Sithi jedoch sehen den Wurm als etwas, das alle Welten gleichzeitig umschlingt, die wachenden und die träumenden … die, die waren, und die, die sein werden. Er beißt sich selbst in den Schwanz, so daß er weder Ende noch Anfang hat.«
»Ein Wurm? Meint Ihr einen D-d-drachen?«
Jiriki nickte, eine abrupte Bewegung wie bei einem Vogel, der nach Körnern pickt. »Es heißt auch, alle Drachen stammten von diesem Urwurm ab, und jeder sei geringer als sein Vorgänger. Igjarjuk und Shurakai waren weniger gewaltig als ihre Mutter Hidohebhi, die ihrerseits nicht so ungeheuer war wie ihr Vater Khaerukama'o der Goldene. Wenn das alles stimmt, werden die Drachen eines Tages ganz aussterben – sofern sie es nicht schon getan haben.«
»D-das w-wäre gut«, meinte Simon.
»Wirklich?« Wieder lächelte Jiriki, aber seine Augen blieben kalte, glänzende Steine. »Die Menschen werden groß, während die großen Lindwürmer … und andere … kleiner werden. Das scheint der Lauf der Welt zu sein.« Er streckte sich mit der bebenden, glatten Anmut einer soeben erwachten Katze. »Der Lauf der Welt«, wiederholte er.
»Aber ich habe diese Schuppe des Urwurmes hervorgeholt, weil ich dir etwas zeigen wollte. Möchtest du es sehen, Menschenkind?«
Simon nickte.
»Diese Reise war nicht einfach für dich.« Jiriki warf über die Schulter einen schnellen Blick auf die anderen, die um Grimmric und das winzige Lagerfeuer kauerten. Nur An'nai sah auf, und zwischen den beiden fand ein unerklärlicher, blitzschneller Gedankenaustausch statt. »Schau«, sagte Jiriki.
Der Spiegel, den er in der hohlen Hand hielt wie einen kostbaren Schluck Wasser, schien sich zu kräuseln. Aus seiner Dunkelheit, nur gespalten von einem zackigen, hellgrauen Streifen, dem Spiegelbild des Himmels über der Kluft, in der sie saßen, schienen langsam grüne Lichtpunkte zu wachsen wie seltsame Pflanzensterne, die am Abendhimmel keimten. »Ich will dir einen wirklichen Sommer zeigen«, erklärte Jiriki leise, »wirklicher als alle, die du bisher erlebt hast.«
Die schimmernden grünen Flecken begannen zu flackern und miteinander zu verschmelzen, funkelnde Smaragdfische, die an die Oberfläche eines schattigen Teiches stiegen. Simon fühlte, wie er in den Spiegel hineingezogen wurde, obwohl er seinen Platz nicht verließ und sich nur darüber beugte. Aus dem einen Grün wurden viele, so viele Schattierungen und Töne, wie es überhaupt gab. Gleich darauf hatten sie sich in ein erstaunliches Gewirr von Brücken, Türmen und Bäumen aufgelöst: eine Stadt und ein Wald, ineinandergewachsen, mitten aus einer grasigen Ebene in die Höhe geschossen – keine Stadt, über die ein Wald hinweggewachsen war wie in Da'ai Chikiza, nein, eine blühende, lebendige Verschmelzung von Pflanze und poliertem Stein, von Myrte, Jade und Viridian.
»Enki-e-Shao'saye«, flüsterte Jiriki. Das Gras auf der Ebene neigte sich üppig im Wind; scharlachrote, weiße und himmelblaue Banner wehten wie Blumen von den ausladenden Türmen der Stadt. »Die letzte und großartigste Stadt des Sommers.«
»Wo … ist … sie?« hauchte Simon, hingerissen und bezaubert von soviel Schönheit.
»Nicht wo, Menschenkind … frag lieber, wann. Die Welt ist nicht nur größer, als du weißt, Seoman, sie ist auch viel, viel älter. Enki-e-Shao'saye ist schon lange zu Staub zerfallen. Es lag im Osten des großen Waldes.«
»Zerfallen?«
»Es war der letzte Ort, an dem Zida'ya und Hikeda'ya noch zusammenlebten, vor der großen Trennung. Es war eine Stadt voller Handwerkskunst, vor allem aber voller Schönheit; selbst der Wind in den Türmen machte Musik, und die Lampen in der Nacht leuchteten so hell wie Sterne. Nenais'u tanzte im Mondlicht an ihrem Waldteich, und die bewundernden Bäume neigten sich, um ihr zuzuschauen.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Das alles ist nicht mehr. Es war der Sommer meines Volkes. Jetzt stehen wir weit im Herbst.«
»Ist nicht mehr?« Simon konnte die Tragödie noch immer nicht fassen. Ihm war, als könne er in den Spiegel hineingreifen und einen der nadelspitzen Türme mit dem Finger berühren. Er fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Keine Heimat! Die Sithi hatten ihre Heimat verloren … einsam und heimatlos durchstreiften sie die Welt.
Jiriki strich mit der Hand über den Spiegel, der sich sofort trübte. »Dahin«, sagte er. »Aber solange es eine Erinnerung gibt, bleibt auch der Sommer. Und selbst der Winter vergeht.« Er sah Simon lange an, und der Ausdruck von Kummer und Entsetzen im Gesicht des Jungen ließ endlich ein kleines, vorsichtiges Lächeln auf Jirikis Züge treten.
»Sei nicht traurig«, meinte er schließlich und klopfte Simon leicht auf den Arm. »Noch ist das Helle nicht ganz aus der Welt verschwunden – noch nicht. Und nicht alle schönen Orte sind verfallene Ruinen. Noch gibt es Jao é-Tinukai'i, die Wohnung meiner Familie und meines Volkes. Vielleicht, wenn wir beide heil von diesem Berg hinunterkommen, wirst du es eines Tages sehen.« Er grinste sein seltsames Grinsen, als habe er einen Plan. »Vielleicht…«
Der Rest des Aufstieges zum Urmsheim – drei weitere Tage auf schmalen, gefährlichen Pfaden, kaum mehr als Eisbänder, oder mit mühsam hineingehackten Hand- und Fußrasten über glatte, glasige Eisfelder, zwei weitere Nächte voll heimtückischer, zähneknirschender Kälte – verging für Simon wie ein flüchtiger, wenn auch schmerzhafter Traum. In der furchtbaren Müdigkeit, die ihn quälte, klammerte er sich an Jirikis Geschenk des Sommers – denn es war ein Geschenk, das verstand er – und war getröstet. Während seine tauben Finger sich mühsam festkrallten und die erstarrten Füße sich anstrengten, auf dem Weg zu bleiben, dachte er daran, daß es irgendwo Wärme und Dinge wie ein Bett und saubere Sachen geben würde – sogar über ein Bad würde er sich freuen! Das alles wartete irgendwo da draußen, wenn er es nur schaffte, den Kopf weit genug einzuziehen, um lebendig wieder von diesem Berg herunterzukommen.
Wenn man sich einmal wirklich Gedanken darüber machte, grübelte, gab es gar nicht so vieles im Leben, das man wirklich brauchte. Zuviel Wünsche zu haben war schlimmer als Habgier: Es war Dummheit – Verschwendung kostbarer Zeit und Mühe.
Langsam arbeitete sich die kleine Schar um das Bergmassiv herum, bis die Sonne, wenn sie morgens aufging, ihnen über die rechte Schulter schien. Die Luft wurde schmerzhaft dünn und zwang sie, häufig stehenzubleiben und Atem zu holen; selbst der zähe Jiriki und der geduldige An'nai bewegten sich langsamer, die Glieder schwer wie von lastenden Gewändern. Die Menschen schleppten sich mühsam vorwärts. Nur der Troll machte eine Ausnahme. Grimmric war dank der Stärke des Qanuc-Elixier wieder auf die Beine gekommen, schlotterte und hustete jedoch beim Klettern.
Von Zeit zu Zeit schwoll der Wind an und trieb die Wolken, die die Schultern des Urmsheim dicht umgaben, auseinander wie zerfetzte Gespenster. Langsam kamen dann auch die schweigenden Nachbarn des Berges zum Vorschein, zerklüftete Gipfel, hoch über der Erde von Osten Ard in erhabene Gespräche vertieft, unbekümmert um die unwürdige und winzige Landschaft zu ihren Füßen. Binabik, der die körperlose Luft des Daches der Welt so bequem atmete, als säße er in der Vorratskammer von Naglimund, zeigte seinen keuchenden Gefährten den breiten, felsigen Mintahoq im Osten und mehrere andere Berge, die die Troll-Fjälle von Yiqanuc begrenzten.
Sie stießen ganz überraschend darauf, als sie noch gut die Hälfte des Berges vor sich hatten. Gerade kämpften sie sich mühsam über einen Felsvorsprung, das Halteseil zwischen ihnen straff wie eine Bogensehne, jeder Atemzug ein Brennen in den Lungen, da hörten sie von einem der Sithi, der vorausgeklettert und nicht mehr zu sehen war, einen seltsamen, pfeifenden Aufschrei. So schnell sie nur konnten, stürzten die Gefährten den Felsen hinauf; die Frage, was wohl dort auf sie wartete, blieb unausgesprochen. Binabik, der erste am Seil, blieb oben auf dem Kamm stehen, ein wenig schwankend, um das Gleichgewicht zu halten.