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»Tochter der Berge!« Der Troll rang nach Atem. Eine Dampfwolke strömte aus seinem Mund. Er stand da und rührte sich nicht. Simon kletterte vorsichtig die letzten paar Schritte zu ihm hinauf.

Zuerst sah er weiter nichts vor sich als ein neues, weites Tal voller Schnee. Gegenüber erhob sich die weiße Bergwand, die rechte Seite stand der Luft und dem Himmel offen, und eine Reihe verschneiter Klippen zog sich an der Flanke des Urmsheim in die Tiefe. Simon drehte sich um und wollte Binabik fragen, warum er gerufen hatte. Die Frage erstarb ihm auf den Lippen.

Auf der linken Seite grub das Tal sich tief in den Berg hinein. Der Talboden stieg an, während sich die hohen Wände immer mehr einander näherten. An ihrem höchsten Punkt, vom Boden hinaufreichend bis in das Dreieck graublauen Himmels, ragte ihnen der Udunbaum entgegen.

»Elysia, Mutter Gottes!« sagte Simon mit brechender Stimme. »Mutter Gottes«, wiederholte er.

Angesichts der ungeheuerlichen, aberwitzigen Unwahrscheinlichkeit der Erscheinung hielt er sie im ersten Augenblick tatsächlich für einen Baum – einen titanischen Eisbaum, tausend Fuß hoch, dessen Myriaden Äste in der Mittagssonne funkelten und blitzten, während eine Krone aus Nebel die unfaßbar hohe Spitze verhüllte. Erst als er endlich selbst glaubte, daß es Wirklichkeit war, was er da sah – daß ein solches Wunder in einer Welt existieren konnte, die auch so profanen Dingen wie Schweinen, Gartenzäunen und Rührschüsseln Platz bot –, erkannte er allmählich, was tatsächlich vor ihm lag: ein gefrorener Wasserfall, entstanden aus jahrelang heruntergetropftem, geschmolzenem Eis und Schnee, gefangen in Millionen Eiszapfen, ein kristallenes Maßwerk über einem zerklüfteten, steinernen Grat, der den Stamm des Udunbaumes bildete.

Jiriki und An'nai standen nur wenige Ellen oberhalb der Talmulde wie angewurzelt und blickten zu dem Baum auf. Simon folgte Binabik und stieg nicht ohne Mühe zu ihnen hinunter; er fühlte, wie sich das Seil um seine Mitte spannte, als Grimmric oben ankam und ebenfalls zu Stein erstarrte, und wartete dann geduldig ab, bis es Haestan und Sludig genauso ergangen war. Endlich waren sie alle, stolpernd und geistesabwesend, durch den tiefen Schnee auf den Talboden hinunter geklettert. Die Sithi sangen leise vor sich hin und kümmerten sich nicht um ihre menschlichen Gefährten. Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Die Majestät des Udunbaumes schien allen den Atem zu rauben, und die Männer standen nur da und starrten, als sei ihr Inneres von allem leer.

»Wir wollen weitergehen«, sagte endlich Binabik. Simon schrak zusammen und war plötzlich wütend auf den Troll, dessen Stimme ihm vorkam wie ein frecher Eindringling.

»D-d-das ist d-das verd-dammteste Ding, d-das ich je gesehen habe«, stotterte Grimmric.

»Hier ist der alte schwarze Einaug zu den Sternen hinaufgestiegen«, bemerkte Sludig leise. »Gott verzeih mir die Sünde, aber ich kann seine Gegenwart noch fühlen.«

Binabik schlug den Weg über die offene Talsohle ein. Die anderen, vom am Geschirr des Trolls befestigten Seil weitergezogen, folgten schnell. Der Schnee war schenkelhoch und erlaubte nur ein langsames Vorwärtskommen. Nachdem sie mit Mühe ungefähr dreißig Schritte zurückgelegt hatten, riß Simon den Blick von dem Schauspiel los und sah nach hinten. An'nai und Jiriki waren nicht mitgekommen; die beiden Sithi standen Seite an Seite, als warteten sie auf etwas.

Sie stapften weiter. Die Talwände beugten sich noch tiefer zu ihnen hinunter, wie fasziniert von den seltenen Wanderern. Simon sah jetzt, daß der Sockel des Eisbaumes aus einer riesigen, von Löchern durchsetzten Halde verstreuter Gerölltrümmer bestand, verdeckt von den herabhängenden unteren Ästen – die natürlich keine wirklichen Äste waren, sondern unzählige, übereinandergeflossene Schichten geschmolzener und wieder gefrorener Eiszapfen, die untere immer breiter als die nächsthöhere, so daß die untersten Zweige über dem Felsengewirr eine Decke bildeten, halb so groß wie ein Turnierplatz.

Sie waren inzwischen so nah herangekommen, daß die gewaltige Eissäule fast durch das Dach des Himmels hindurchzureichen schien. Als Simon unter Schmerzen den Kopf zurücklegte, um einen letzten Blick auf die kaum sichtbare Baumspitze zu werfen, überkam ihn eine Welle von Überraschung und Furcht. Sekundenlang wurde ihm schwarz vor Augen.

Der Turm! Aus meinen Träumen! Der Turm mit den Ästen! Benommen stolperte er und fiel in den Schnee. Haestan streckte wortlos die breite Hand aus und hob ihn auf. Simon wagte einen zweiten Blick in die Höhe, und ein Angstgefühl, das mehr war als nur Schwindel, überschwemmte ihn.

»Binabik!« schrie er. Der Troll, der gerade in der violetten Dunkelheit verschwinden wollte, die der Schatten des Udunbaumes war, drehte sich hastig um.

»Still, Simon!« zischte er. »Wir wissen nicht, ob wir nicht durch laute Worte scharfes Eis lockern, was wir dann sehr bedauern würden.«

Simon lief durch den klebrigen Schnee weiter, so schnell er konnte.

»Binabik, das ist der Turm, von dem ich geträumt habe – ein weißer Turm mit Ästen wie ein Baum! Das ist er!«

Der Troll musterte die Haufen von gewaltigen Felsblöcken und Steintrümmern an der dunklen Unterseite des Baumes. »Ich dachte, du hättest den Glauben gehabt, es wäre der Grünengel-Turm im Hochhorst, den du sahst?«

»Ja, das habe ich auch – das heißt, es war etwas von beiden. Aber ich hatte diesen hier ja noch nie gesehen, darum wußte ich nicht, daß ein Teil davon auch ein Teil hiervon war! Verstehst du?«

Binabik zog die buschigen schwarzen Brauen hoch. »Wenn wir das nächste Mal Zeit finden, werde ich die Knöchel werfen. Jetzt aber haben wir einen Auftrag, der noch unerfüllt ist!«

Er wartete, bis die Nachzügler herangekommen waren, bevor er fortfuhr. »Es ist mein Gedanke«, erklärte er, »daß wir bald ein Lager aufschlagen sollten. Danach können wir die letzten Tageslichtstunden dazu benutzen, nach Zeichen von Colmunds Schar oder dem Schwert Dorn zu suchen.«

»Werden sie«, Haestan deutete auf die weit zurückgebliebenen Sithi, »dabei helfen?«

Bevor Binabik eine Meinung dazu äußern konnte, stieß Grimmric einen aufgeregten Pfiff aus und deutete auf die Steintrümmer. »Seht doch!« rief er. »Ich denke, hier war schon jemand vor uns. Seht euch nur die Steine da oben an!«

Simon folgte den Fingern des Soldaten zu einer Stelle etwas weiter oben zwischen den Felsen am Hang. Dort waren im Eingang eines der höhlenartigen Löcher mehrere Reihen Steine aufgeschichtet.

»Du hast recht!« rief Haestan. »Er hat recht! So gewiß, wie Tunaths Gebeine von Norden nach Süden liegen – da oben hat sich jemand ein Lager gebaut.«

»Vorsichtig!« mahnte Binabik eindringlich, aber Simon hatte bereits sein Geschirr abgestreift und war in das Geröll hineingeklettert. Dort, wo er vorsichtig die Füße hinsetzte, lösten sich kleine Lawinen. In wenigen Augenblicken hatte er die Höhle erreicht und blieb, auf einem lockeren Stein schwankend, davor stehen.

»Diese Mauer wurde ganz bestimmt von Menschen errichtet!« rief er aufgeregt nach unten. Die Öffnung der Höhle war vielleicht drei Ellen breit, und jemand hatte eilig, aber nicht ungeschickt, im Eingang Felsen aneinandergeschichtet – vielleicht, um die Wärme nicht hinauszulassen, vielleicht auch, um Tiere am Eindringen zu hindern.

»Schrei nicht, Simon, freundlicherweise«, warnte Binabik. »Wir sind gleich bei dir.«

Ungeduldig sah Simon zu, wie die anderen zu ihm hinaufstiegen. Alle Gedanken an dünne Luft und tödliche Kälte waren für den Augenblick vergessen. Als Haestan gerade über den Steinhaufen klettern wollte, erschienen auch die beiden Sithi unter den überhängenden Ästen des Udunbaumes. Nachdem sie einen kurzen Blick auf die Szene geworfen hatten, näherten sie sich der Höhle so gewandt wie zwei von Ast zu Ast hüpfende Eichhörnchen.