Simon brauchte einen Moment, bis sich sein Blick an das tiefere Dunkel im Inneren der niedrigen Höhle gewöhnt hatten. Als er endlich wieder etwas sehen konnte, dauerte es keine weitere Sekunde, bis seine Augen groß wurden vor Entsetzen.
»Binabik! Es ist … sie sind…«
Der Troll, der aufrecht stehen konnte, wo Simon hocken mußte, schlug sich mit dem Handballen aufs Brustbein.
»Qinkipa!« sagte er. »Sie haben auf unser Kommen gewartet.«
Überall in der Höhle lagen gebräunte Menschenknochen. Die Skelette, nackt bis auf Ausrüstungsgegenstände und Schmuck aus verwittertem schwarzem und grünem Metall, saßen an die Höhlenwände gelehnt da. Eine dünne Eisschicht lag über ihnen wie schützendes Glas.
»Ist das Colmund?« fragte Simon.
»Usires steh uns bei«, würgte hinter ihm Sludig, »nur weg von hier! Die Luft muß voller Gift sein.«
»Hier ist kein Gift«, erwiderte Binabik tadelnd. »Und ob das Herrn Colmunds Leute sind, nun, es scheint mir eine starke Wahrscheinlichkeit zu sein.«
»Es ist eine interessante Frage, wie sie wohl gestorben sein mögen.« In der kleinen Höhle klang Jirikis Stimme erstaunlich laut. »Wenn sie froren, warum drängten sie sich dann nicht wärmesuchend aneinander?« Er deutete auf die in der Kammer verstreuten Knochen. »Und wenn ein Tier sie getötet hat – oder sie sich gegenseitig umbrachten –, wieso sind dann die Knochen so sorgfältig geordnet, als habe sich einer nach dem anderen ordentlich zum Sterben hingelegt?«
»Es gibt Geheimnisse hier, über die eines Tages lange zu sprechen sich lohnt«, entgegnete der Troll, »aber wir haben andere Pflichten, und das Licht schwindet schnell.«
»Kommt alle her«, sagte Sludig mit einer Stimme von schrecklicher Eindringlichkeit, »hierher!«
Er stand vor einem der Skelette. Obwohl die Knochen zu einem rostroten Haufen zusammengesackt waren, hatte es immer noch das Aussehen eines mitten im Gebet vornüber gefallenen Menschen, der mit ausgestreckten Armen gekniet hatte. Zwischen den Knochen der beiden Hände, die halb unter Eis versteckt waren wie Steine in einer Schale mit Milch, lag ein langes, in froststarres, moderndes Öltuch gewickeltes Bündel.
Jäh schien alle Luft aus der Höhle zu weichen. Ein angespanntes, erstickendes Schweigen legte sich auf die Versammelten. Der Troll und der Rimmersmann knieten nieder, als wollten sie dem Beispiel der uralten Gebeine folgen, und begannen mit den Eispickeln auf das gefrorene Bündel einzuhacken. Das Öltuch splitterte wie Borke. Ein langer Streifen sprang ab. Darunter zeigte sich tiefe Schwärze.
»Es ist kein Metall«, sagte Simon enttäuscht.
»Dorn ist auch nicht aus Metall«, brummte Binabik, »jedenfalls aus keinem Metall, das du je gesehen hast.«
Sludig gelang es, die Spitze seines Pickels unter das versteinerte Tuch zu schieben, und mit Haestans kräftiger Hilfe rissen sie einen zweiten Streifen herunter. Simon schnappte nach Luft. Binabik hatte recht: Was da wie ein kohlschwarzer Schmetterling aus dem Gefängnis seiner Verpuppung zum Vorschein kam, war kein gewöhnliches Schwert; es war ein Schwert, wie er es noch nie erblickt hatte: so lang wie der Raum zwischen den ausgebreiteten Armen eines Mannes, von Fingerspitze zu Fingerspitze, und schwarz. Die Reinheit dieser Schwärze wurde von den Farben, die an seiner Schneide funkelten, nicht getrübt, so als sei diese Klinge so übernatürlich scharf, daß sie selbst das matte Licht in der Höhle noch in Regenbogen zerschnitt. Wäre die Silberschnur nicht gewesen, die sich als Halt für die Hand um den Griff schlang und das freiliegende Stichblatt und den Knauf so pechschwarz ließ wie den Rest der Klinge, hätte es den Anschein gehabt, als stehe das Schwert überhaupt in keiner Beziehung zu den Menschen. Vielmehr hätte es trotz seiner Symmetrie wie etwas natürlich Gewachsenes gewirkt, die reine Essenz natürlicher Schwärze, durch Zufall manifestiert in der Gestalt eines wundervollen Schwertes.
»Dorn«, flüsterte Binabik, und seine Zufriedenheit hatte einen Unterton von Ehrfurcht.
»Dorn«, wiederholte Jiriki, und Simon konnte sich seine Gedanken, als er das Schwert bei seinem Namen nannte, nicht einmal annähernd vorstellen.
»Dann ist es das also wirklich?« fragte Sludig. »Es ist sehr schön. Was konnte sie töten, solange sie eine Klinge besaßen wie diese?«
Alle starrten weiter auf die Waffe. Endlich richtete sich Grimmric, dem Höhleneingang am nächsten, aus der Hocke auf und schlug die dünnen Arme um sich.
»Wie der Troll sagen würde, ›Schwerter kann man nicht essen‹. Ich mache uns Feuer für die Nacht.« Er trat vor die Höhle und streckte sich. Dabei pfiff er vor sich hin; die Melodie, zuerst leise, erklang bald lauter.
»In den Felsspalten wächst Gestrüpp, das vielleicht zusammen mit unserem Anmachholz brennen wird«, rief Sludig ihm nach.
Haestan beugte sich vor und berührte die schwarze Klinge vorsichtig mit dem Finger. »Kalt«, lächelte er. »Ist ja auch kein Wunder, was?« Er wandte sich, merkwürdig schüchtern, an Binabik. »Darf ich es aufheben?«
Der Troll nickte. »Aber vorsichtig.«
Haestan ließ die Finger unter den schnurumwickelten Griff gleiten und zog, aber das Schwert rührte sich nicht. »Festgefroren«, meinte er. Wieder zog er, diesmal fester, aber mit genauso wenig Erfolg. »Richtig fest angefroren«, keuchte er und zerrte mit aller Macht. Sein Atem stieg als Wolke empor.
Sludig lehnte sich hinüber, um ihm zu helfen. Draußen vor der Höhle hörte Grimmric zu pfeifen auf und murmelte etwas Unverständliches.
Als Rimmersmann und Erkynländer gemeinsam anpackten, bewegte sich das schwarze Schwert endlich, aber anstatt mit einem Ruck die Fesseln des Eises zu durchbrechen, glitt die Klinge lediglich ein kleines Stück zur Seite und blieb dort liegen.
»Es ist nicht angefroren«, schnaufte Sludig. »Es ist schwer wie ein Mühlstein. Wir können es zu zweit kaum bewegen!«
»Wie bekommen wir es dann den Berg hinunter, Binabik?« fragte Simon. Am liebsten hätte er gelacht. Es war alles so albern und sonderbar – ein Zauberschwert zu finden und es dann nicht mitnehmen zu können! Er streckte die Hand aus und fühlte das tiefe, kalte Gewicht des Schwertes – und noch etwas. Wurde es warm? Ja, irgend etwas wie unbestimmtes Leben regte sich unter der kalten Oberfläche, wie eine schlafende Schlange, die langsam erwacht – oder bildete er sich das nur ein?
Binabik betrachtete die unbewegliche Klinge und kratzte sich nachdenklich im zottigen Haar. Da kam Grimmric in die Höhle zurück, wild mit den Armen rudernd. Noch während sich alle nach ihm umdrehten, brach er in die Knie und sackte vornüber, schlaff wie ein Mehlsack.
Ein schwarzer Pfeil, eine andere Art von Dorn, bebte in seinem Rücken.
Blaues Licht badete die Silbermaske und malte ihre Umrisse in bleichem Feuer. Das Gesicht unter der Maske war einst Vorbild ihrer gemeißelten, unmenschlichen Schönheit gewesen, aber kein lebendes Wesen wußte heute noch, was die Maske bedeckte. Seitdem Utuk'kus Gesicht für immer unter ihren schimmernden Linien verschwunden war, hatte die Welt sich unzählige Male gedreht.
Die bläulich überhauchte Maske wandte sich und betrachtete die riesige Steinhalle und ihre tiefen Schatten. Sie musterte ihre hin und her eilende Dienerschar, die sich mühte, ihre Befehle zu erfüllen. Ihre Stimmen erklangen in Liedern zu ihrem Preis und Gedenken; ihre weißen Haare flatterten im ewigen Wind der Halle der Harfe. Beifällig lauschte sie dem Echo der dröhnenden Hexenholzhämmer im endlosen Irrgarten der Gänge, die das gefrorene Nakkiga durchzogen, den Berg, den die Nornen Maske der Tränen nannten. Bei den Menschen hieß ihr Wohnort Sturmspitze, und Utuk'ku wußte, daß er sie in ihren Träumen verfolgte … und das war gut so. Das silberne Gesicht nickte befriedigt. Alles war bereit.