»Simon!« zischte jemand. Erschrocken fuhr der Junge herum und sah Binabik, der über seinem Kopf auf der Felsnase hockte.
»Was machen wir jetzt?« fragte Simon und versuchte dabei erfolglos, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben. Der Troll seinerseits starrte fassungslos auf Dorns schwarze Länge hinunter, die sich in Simons Arme schmiegte wie ein Kind.
»Wie …?« begann Binabik, das runde Gesicht voller Staunen.
»Ich weiß nicht. Ich habe es einfach hochgehoben. Ich weiß wirklich nicht! Was machen wir jetzt?«
Der Troll schüttelte den Kopf. »Du bleibst, wo du bist. Ich werde helfen, so gut ich kann. Ich wünschte nur, ich hätte einen Speer.« Er sprang leichtfüßig nach unten und überschüttete Simon im Vorbeijagen mit einer Wolke von kleinen Steinchen.
»Für Josua Ohnehand!« brüllte Haestan und stürmte unter den vorspringenden Ästen des Udunbaumes hervor und in das weiße Tal hinunter. Sludig hinkte zielstrebig hinterdrein. Sobald sie den Tiefschnee erreichten, wurden sie langsamer; es sah aus, als liefen sie durch Sirup. Ingens Jäger kamen ihnen im gleichen zögernd-tödlichen Tanz entgegen.
Haestan hob das schwere Schwert, aber noch bevor er den Angreifern gegenüberstand, fiel die erste Gestalt im weißen Mantel und umklammerte mit den Händen ihren Hals.
»Yiqanuc!« schrie Binabik triumphierend und hockte sich hin, um sein Blasrohr neu zu stopfen.
Das Tal hallte von Schwertgeklirr wider, als Ingens erste Männer auf Haestan und Sludig trafen. Zwar folgten ihnen die Sithi, die leichtfüßig über den Schnee flogen, auf dem Fuße, aber dennoch waren die Gefährten weit in der Minderzahl. Eine flache Klinge traf Haestans Schädel unter der Kapuze, und er ging in einer Wolke von Schnee zu Boden. Nur An'nai, der sich mit einem Satz vor ihn stellte, verhinderte, daß er sofort aufgespießt wurde.
Klingen blinkten im matten Sonnenlicht, und Wut- und Schmerzensschreie übertönten beinahe noch das Klirren des Metalls. Simon sah mit sinkendem Mut, daß Binabik, dessen übrige Dornen sich gegen die dicken Mäntel der Jäger als wirkungslos erwiesen hatten, das lange Messer aus dem Gürtel zog.
Wie kann er so tapfer sein? Er ist doch so klein – sie werden ihn töten, bevor er nahe genug an sie herankommt!
»Binabik!« schrie er und sprang auf. Er schwang das schwere schwarze Schwert über den Kopf und spürte, wie ihn die entsetzliche Last niederzwingen wollte, während er noch vorwärtsstolperte.
Plötzlich hob sich unter seinen Füßen die Erde. Breitbeinig torkelte er weiter. Es kam ihm vor, als wanke der ganze Berg. Ein grollendes Aufkreischen durchbohrte ihm die Ohren. Es klang, als schleife man einen schweren Felsblock durch einen Steinbruch. Die Kämpfenden hielten verblüfft inne und starrten auf ihre Stiefel.
Mit einem neuen grausigen Schrei des gefolterten Eises begann sich der Boden zu wölben. Mitten im Talgrund, nur wenige Ellen von der Stelle, an der Ingen Jegger mit weit aufgerissenen Augen in entsetzter Verwirrung stand, schob sich eine mächtige Eisscholle nach oben und richtete sich splitternd und bockend auf. Schnee fiel in großen Wehen von ihr herunter.
Von der jähen Bewegung des Erdbodens nach vorn geschleudert, taumelte Simon und stürzte vorwärts. Dorn fest umklammert, kam er genau in der Mitte zwischen den beiden Parteien zum Halt. Aber niemand schien ihn zu bemerken, alle standen wie angewurzelt, als hätte das Eis des Udunbaumes ihr Blut in lähmenden Frost verwandelt. Sie stierten das Unfaßliche an, das jetzt durch den Schnee brach.
Der Eisdrache.
Aus der neu entstandenen Spalte stieß ein mannshoher Schlangenkopf, weißschuppig, das Maul voller Zähne, die starren Augen blau und wolkig. Auf seinem langen Hals wiegte er sich geschmeidig nach allen Seiten, als beobachte er neugierig die winzigen Geschöpfe, die ihn aus jahrelangem Schlummer erweckt hatten. Dann schoß er mit grausiger Schnelligkeit vor und packte einen der Jäger mit seinen Kiefern, biß ihn entzwei und verschlang seine Beine. Der zerquetschte, blutige Leib fiel in den Schnee wie ein fortgeworfener Lumpen.
»Igjarjuk! Es ist Igjarjuk!« rief Binabik mit dünner Stimme. Der elfenbeinglänzende Kopf schnappte nach einem zweiten weißgekleideten Leckerbissen. Als die übrigen, die Gesichter leer vor Grauen, auseinanderstoben, griffen weiße Füße mit gespreizten Klauen nach dem Rand der Spalte, und der lange Drachenleib, auf dessen Rücken seltsam bleiches Fell wucherte, gelblich wie altes Pergament, kroch langsam empor. Ein peitschenartiger Schwanz von der Länge einer Turnierbahn fegte zwei weitere schreiende Jäger in den Abgrund.
Simon saß betäubt im Schnee. Er konnte das Ungeheuer, das auf dem Rand der Eisspalte hockte wie eine Katze auf der Stuhllehne, einfach nicht fassen. Jetzt senkte sich der Kopf mit der langgestreckten Schnauze, um ihn zu betrachten, und die trüben, blauen Augen, die niemals blinzelten, musterten ihn mit gelassener, uralter Bosheit. Simon tat der Kopf weh, als versuche er durch Wasser hindurchzuschauen – diese Augen, die so hohl waren wie Gletscherspalten! Es sah ihn, ja, es erkannte ihn auf irgendeine Weise – es war so alt wie die Gebeine der Berge, so weise und grausam und achtlos wie die Zeit selbst.
Die Kiefer öffneten sich und ein schwarzer Zungensplitter zischte hervor wie ein Messer und kostete die Luft. Der Kopf nickte näher.
»Ske'i, Hidohebhi-Brut!« rief eine Stimme, und gleich darauf war An'nai auf den Rücken des Untiers gesprungen. Er hielt sich im dicken Pelz fest, hob singend sein Schwert und hackte auf ein schuppiges Hinterbein ein. Simon kam auf die Füße und stolperte rückwärts. Der Drache hob den Schwanz und schleuderte den Sitha fort. An'nai flog fünfzig Ellen durch die Luft und landete am steilen Außenrand des Tales im Schnee, wo er zusammenbrach, nur noch Nebel zwischen sich und der Tiefe. Mit einem Aufschrei der Wut und Verzweiflung rannte Jiriki ihm nach.
»Simon!« brüllte der Troll. »Lauf! Wir können dir nicht helfen!«
Noch während er rief, lichtete sich der Nebel, der Simons Verstand getrübt hatte. Schon war er aufgesprungen und lief hinter Jiriki her. Binabik, der am anderen Rand der Spalte gestanden hatte, warf sich, als der Drache von neuem zuschnappte, nach hinten, und die gewaltigen Kiefer schlossen sich mit einem Krachen, als fiele ein eisernes Tor ins Schloß, über leerem Raum. Der Troll versank in einer Eisspalte und war nicht mehr zu sehen.
Jiriki, reglos wie eine Statue, saß über An'nais Körper gebeugt. Als er auf ihn zustürmte, warf Simon einen kurzen Blick über die Schulter und stellte fest, daß Igjarjuk von der zerbrochenen Eiszinne heruntergeglitten war und ihm durch das kleine Tal folgte. Die kurzen Beine gruben sich tief in das Eis, während er sich über den Boden schob und die Entfernung zwischen sich und seiner stolpernden Beute rasch immer mehr verringerte. Simon wollte Jirikis Namen rufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt; alles, was er herausbrachte, war ein ersticktes Ächzen. Der Sitha drehte sich um. Seine Bernsteinaugen leuchteten. Er stand auf und stellte sich neben den Körper seines Kameraden, das lange, runenbedeckte Hexenholzschwert kampfbereit vor sich.
»Komm, Uralter!« schrie Jiriki. »Komm und koste Indreju, du Bastardkind Hidohebhis!«
Simon verzog das Gesicht und wühlte sich weiter auf den Prinzen zu. Unnötiges Geschrei – der Drache kommt von ganz allein zu uns.
»Stell dich hinter mich«, wollte Jiriki gerade sagen, als Simon ihn endlich erreicht hatte. In diesem Augenblick kippte der Sitha jäh nach hinten; der Schnee unter ihm hatte nachgegeben. Jiriki rutschte rückwärts an den Talrand und in die leere Weite darunter. Vergeblich versuchte er sich im Schnee festzuhalten, kam in letzter Sekunde zum Stehen, blieb an den Boden gekrallt hängen; seine Füße baumelten über dem Nichts. Eine Elle daneben lag unbeachtet An'nai, ein blutiges Gewirr von Armen und Beinen.