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»Jiriki …!« Simon verstummte. Hinter ihm ertönte ein Geräusch wie Donner. Er wirbelte herum und sah die gewaltige weiße Masse Igjarjuks auf sich zukommen. Im Takt zur Bewegung der Beine, die ihn vorwärtstrugen, peitschte sein Kopf von einer Seite zur anderen. Simon machte einen Sprung nach der von Jiriki und An'nai entfernten Seite, rollte durch den Schnee und kam wieder auf die Füße. Die blauen Untertassenaugen wichen nicht von ihm, und das Tier, keine hundert Schritte entfernt, schwenkte um und folgte.

Simon merkte plötzlich, daß er noch immer Dorn umklammert hielt. Er hob es in die Höhe. Es war auf einmal so leicht wie eine Weidengerte und schien unter seinen Händen zu singen wie ein Tau im Wind. Er schaute kurz hinter sich: ein paar Schritte fester Boden, dann leere Luft. In den wirbelnden Nebeln über dem Abgrund schwebte einer der fernen Gipfel – weiß, ruhig, gelassen.

Usires steh mir bei, dachte er, warum ist der Drache so lautlos? Sein Geist schien lose in seinem Körper zu treiben. Eine Hand stahl sich zu Miriamels Schal, dann packte er von neuem den silberumspannten Griff. Vor ihm türmte sich Igjarjuks Kopf, der Rachen wie ein schwarzes Loch, das Auge eine blaue Laterne. Die Welt schien aus Schweigen zu bestehen.

Was sollte er als letztes rufen?

Während der frostige Moschus des Drachen schon zu ihm herüberwehte, ein Gestank nach saurer, kalter Erde und nassen Steinen, erinnerte er sich an das, was Jiriki einst über die Sterblichen gesagt hatte.

»Hier bin ich!« schrie er und ließ Dorn pfeifend auf das tückische Auge zusausen. »Ich bin … Simon!«

Die Klinge traf, und ein Schwall schwarzen Blutes überströmte ihn, brannte wie Feuer, wie Eis, versengte sein Gesicht; und etwas Großes, Weißes stürzte krachend auf ihn zu und riß ihn hinab ins Dunkel.

XLIII

Dem Erdboden gleich

Das Rotkehlchen landete auf einem niedrigen Ulmenast. Seine orangefarbige Brust leuchtete wie verlöschende Glut. Es drehte langsam den Kopf nach allen Seiten und betrachtete den Kräutergarten. Dabei zwitscherte es ungeduldig, als sei es unzufrieden, alles so verwahrlost vorzufinden.

Josua sah es fortfliegen, in einem Bogen über die Gartenmauer, dann steil aufwärts über die Zinnen der inneren Burg. Sekunden später war es nur noch ein schwarzer Fleck in der hellgrauen Morgendämmerung.

»Das erste Rotkehlchen seit langer Zeit. Vielleicht ist es ein Zeichen der Hoffnung in diesem finsteren Yuven.«

Der Prinz drehte sich überrascht um. Hinter ihm auf dem Weg stand Jarnauga, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der gerade noch der Vogel gesessen hatte. Der Alte, dem die Kälte nichts anzuhaben schien, war nur mit Hosen und einem dünnen Hemd bekleidet; die weißen Füße waren nackt.

»Guten Morgen, Jarnauga«, sagte Josua und zog den Mantel um den Hals ein wenig enger, als lasse ihn die Unempfindlichkeit des Rimmersmannes die Kälte nur noch stärker spüren. »Was führt dich so früh in den Garten?«

»Mein alter Körper braucht wenig Schlaf, Prinz Josua«, lächelte der andere. »Und ich könnte Euch das gleiche fragen, wenn ich die Antwort nicht zu kennen glaubte.«

Josua nickte trübe. »Seit ich zum ersten Mal die Verliese meines Bruders betrat, habe ich nicht mehr gut geschlafen. Zwar wohne ich inzwischen bequemer, aber auch wenn ich nicht mehr in Ketten liege, läßt mich doch die Sorge nicht zur Ruhe kommen.«

»Es gibt viele Arten von Gefangenschaft«, nickte Jarnauga.

Eine Weile wanderten sie schweigend durch das Gewirr der Pfade. Der Garten war einst der Stolz der Herrin Vara gewesen, nach ihren peinlich genauen Anweisungen angelegt – für ein Mädchen, das im Planwagen geboren war, tuschelten die Hofleute des Prinzen, legte sie wirklich übertrieben viel Wert auf Eleganz. Jetzt freilich war der Garten vernachlässigt, zum einen des schlechten Wetters wegen, zum anderen wegen allzuvieler weit dringlicherer Dinge, die getan werden mußten.

»Irgend etwas stimmt nicht, Jarnauga«, sagte Josua endlich. »Ich kann es fühlen. Ich kann es beinahe riechen, wie ein Fischer das Wetter. Was brütet mein Bruder aus?«

»Mir scheint, er tut sein bestes, um uns alle zu töten«, erwiderte der alte Mann, und ein bitteres Grinsen verzog sein ledriges Gesicht. »Ist es das, was ›nicht stimmt‹?«

»Nein«, erklärte der Prinz ernsthaft. »Nein. Das ist ja gerade das Bedenkliche. Seit einem Monat wehren wir ihn ab, unter bitteren Verlusten – Baron Ordmaer, Herr Grimsted, Wuldorcen von Caldsae und Hunderte wackerer freier Männer –, aber es ist jetzt fast vierzehn Tage her, daß er den letzten wirklichen Angriff unternommen hat. Seine Attacken waren … eher beiläufig. Er tut nur so, als belagere er uns. Warum?« Er setzte sich auf eine niedrige Bank, Jarnauga neben ihn. »Warum?« wiederholte er.

»Nicht immer wird eine Belagerung mit Waffengewalt gewonnen. Vielleicht will er uns aushungern.«

»Aber warum greift er dann überhaupt an? Wir haben unseren Gegnern schreckliche Verluste zugefügt. Warum wartet er nicht einfach ab? Es sieht aus, als lege er nur Wert darauf, uns in unseren Mauern festzuhalten und selber draußen zu bleiben. Was hat Elias vor?«

Der Alte zuckte die Achseln. »Wie ich Euch schon gesagt habe: Ich sehe vieles, aber das, was in den Herzen der Menschen liegt, überschreitet die Kraft meiner Augen. Bisher haben wir überlebt. Seien wir dankbar.«

»Das bin ich auch. Aber ich kenne meinen Bruder. Er gehört nicht zu denen, die geduldig dasitzen und abwarten. Es liegt etwas in der Luft, irgendein Plan…« Er verstummte und starrte auf ein verwildertes Hohnblatt-Beet. Die Blüten hatten sich nicht geöffnet, und unter den ineinandergewachsenen Stengeln stand frech das Unkraut, wie Aasfresser sich unter eine sterbende Herde mischen.

»Er hätte ein großartiger König sein können, weißt du«, sagte Josua unvermittelt, als beantworte er eine unausgesprochene Frage. »Es gab eine Zeit, in der er nur stark war und kein Tyrann. Das heißt, er war zwar manchmal grausam, als wir jünger waren, aber nur mit dieser unschuldigen Grausamkeit, die große Jungen den kleineren gegenüber zeigen. Er hat mir sogar manches beigebracht – Schwertfechten, Ringen … Von mir hat er nie etwas gelernt. Er hat sich für die Dinge niemals interessiert.« Der Prinz lächelte traurig.

»Wir hätten sogar Freunde sein können…« Der Prinz faltete die langen Finger und blies warmen Atem hinein. »Wenn nur Hylissa am Leben geblieben wäre.«

»Miriamels Mutter?« fragte Jarnauga leise.

»Sie war sehr schön, eine südliche Schönheit – schwarze Haare, weiße Zähne. Sehr scheu war sie; aber wenn sie lächelte, war es, als habe man eine Lampe entzündet. Und sie liebte meinen Bruder – so gut es ihr möglich war. Aber sie hatte auch Angst vor ihm: so laut, so groß. Und sie war sehr klein … schlank wie eine Weide … erschrak, wenn man nur ihre Schulter berührte…« Der Prinz sprach nicht weiter, sondern saß gedankenverloren da. Durch die Wolken am Himmel floß wäßriger Sonnenschein und brachte ein wenig Farbe in den öden Garten.

»Ihr klingt, als hättet Ihr viel von ihr gehalten«, meinte der alte Mann sanft.

»Oh, ich liebte sie.« Josua sprach in sachlichem Ton, den Blick noch immer fest auf das Hohnblattgestrüpp gerichtet. »Ich brannte vor Liebe zu ihr. Ich betete zu Gott, mich von dieser Liebe zu befreien, obwohl ich wußte, daß ich dann nur noch eine leere Hülle sein würde, ihres lebendigen Kernes beraubt. Nicht, daß meine Gebete mir etwas genützt hätten. Und ich glaube, auch sie liebte mich; oft sagte sie, ich sei ihr einziger Freund. Niemand kannte sie so gut wie ich.«

»Ahnte Elias etwas davon?«

»Natürlich. Er hatte jeden im Verdacht, der bei den Festveranstaltungen des Hofes auch nur neben ihr stand, und ich war ständig an ihrer Seite. Aber immer in Ehren«, fügte er hastig hinzu und unterbrach sich sofort wieder. »Warum nehme ich das so wichtig, selbst heute noch? Usires vergib mir, ich wünschte nur, wir hätten ihn betrogen!« Josua biß die Zähne zusammen. »Ich wünschte, sie wäre meine tote Geliebte und nicht nur die verstorbene Gattin meines Bruders.« Er starrte anklagend auf den vernarbten Fleischklumpen, der aus seinem rechten Ärmel ragte. »Ihr Tod liegt auf meinem Gewissen wie ein großer Stein – es war meine Schuld! Mein Gott, wir sind ein vom Unheil verfolgtes Geschlecht.«