Er hielt inne, als sich auf dem Pfad Schritte näherten.
»Prinz Josua! Prinz Josua, wo seid Ihr?«
»Hier«, rief der Prinz zerstreut, und einen Augenblick später tauchte einer seiner Wachsoldaten hinter einer Heckenwand auf.
»Mein Prinz!« keuchte er und beugte das Knie. »Herr Deornoth bittet Euch, sofort zu ihm zu kommen!«
»Sind sie schon wieder unter den Mauern?« fragte Josua, stand auf und schüttelte sich den Tau vom wollenen Mantel. Seine Stimme klang noch immer unbeteiligt.
»Nein, Herr«, antwortete der Wachsoldat, und sein Mund unter dem Schnurrbart klappte erregt auf und zu, als wäre er ein bärtiger Fisch. »Es ist Euer Bruder – ich meine, der König, Herr. Er zieht sich zurück. Die Belagerung ist beendet!«
Der Prinz warf Jarnauga einen verwirrten, sorgenvollen Blick zu, als sie hinter dem aufgeregten Wächter den Pfad entlanghasteten.
»Der Hochkönig hat aufgegeben!« schrie Deornoth, sobald Josua mit vom Wind geblähtem Mantel die Treppe hinaufkam. »Seht doch! Er zieht den Schwanz ein und rennt!«
Deornoth drehte sich um und gab Isorn einen kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter. Der Herzogssohn grinste, während der neben ihm stehende Einskaldir dem jungen Erkynländer einen finsteren Blick zuwarf, damit er nur nicht auf den Gedanken kam, etwas so Närrisches auch bei ihm zu versuchen.
»Also was ist?« fragte Josua und drängte sich neben Deornoth auf die leicht abgesackte Vormauer. Genau unter ihnen lagen die zerschmetterten Überreste eines Mineurkastens, Beweis für den vergeblichen Versuch, die Vormauer durch Untertunneln zum Einsturz zu bringen. Die Mauer war ein paar Fuß eingebrochen, hatte aber gehalten; Dendinis hatte für Jahrtausende gebaut. Die Mineure hatten die Holzpfeiler, die ihren Tunnel stützten, in Brand gesetzt und waren von den wenigen Steinen, die sie selber gelockert hatten, erschlagen worden.
Drüben lag Elias' Feldlager, ein Ameisenhaufen geschäftiger Betriebsamkeit. Die noch übrigen Belagerungsmaschinen waren umgekippt und zerstört worden, damit niemand sonst einen Vorteil von ihnen hätte; die Vielzahl der Zeltreihen war verschwunden, als hätten Sturmböen sie aufgewirbelt und fortgeweht. Schwache Geräusche – fernes Schreien der Fuhrleute und Peitschengeknall – drangen zu ihnen herauf: Die Wagen des Hochkönigs wurden beladen.
»Er zieht sich zurück!« sagte Deornoth beglückt. »Wir haben es geschafft!«
Josua schüttelte den Kopf. »Warum? Warum sollte er? Wir haben ihm kaum einen Bruchteil seiner Truppen genommen.«
»Vielleicht hat er eingesehen, wie stark Naglimund ist«, meinte Isorn und spähte nach unten.
»Und warum hungert er uns dann nicht aus?« fragte der Prinz. »Ädon! Was geht hier vor? Ich könnte mir noch vorstellen, daß vielleicht Elias selber zum Hochhorst zurückkehrt – aber warum läßt er nicht einmal eine symbolische Belagerung weiterbestehen?«
»Um uns herauszulocken«, meinte Einskaldir gelassen. »In offenes Gelände.« Mit finsterer Miene rieb er mit rauhem Daumen über die Klinge seines Messers.
»Das könnte sein«, erwiderte der Prinz, »aber er müßte mich besser kennen.«
»Josua…« Jarnauga blickte über das abziehende Heer in den Morgendunst, der den nördlichen Himmel verschleierte. »Es stehen seltsame Wolken oben im Norden.«
Die anderen bemühten sich, seinem Blick zu folgen, konnten aber nur die unbestimmten Anfänge der Frostmark erkennen.
»Was für Wolken?« erkundigte der Prinz sich schließlich.
»Sturmwolken. Äußerst ungewöhnlich. Wie keine, die ich jemals südlich des Gebirges gesehen habe.«
Der Prinz stand am Fenster und lauschte dem Raunen des umherstreifenden Windes, die Stirn an den kalten Steinrahmen gepreßt. Unter ihm lag im Mondschein der schmale Hof, und die Bäume schwankten.
Vara streckte einen weißen Arm unter der Pelzdecke hervor.
»Was habt Ihr, Josua? Es ist kalt. Schließt das Fenster und kommt zurück ins Bett.«
Er drehte sich nicht um. »Der Wind geht, wohin er will«, sagte er ruhig. »Man kann ihn nicht vor der Tür lassen und ihn auch nicht einsperren, wenn er wieder hinaus will.«
»Es ist zu spät in der Nacht für Eure Rätsel, Josua«, entgegnete sie. Gähnend fuhr sie sich mit den Fingern durch das tintenschwarze Haar, so daß es auf dem Laken ausgebreitet lag wie schwarze Schlangen.
»Es ist vielleicht zu spät für viele Dinge«, meinte er und setzte sich zu ihr auf das Bett. Seine Hand streichelte sanft ihren langen Hals, aber noch immer sah er zum Fenster hinüber. »Es tut mir leid, Vara. Ich bin … verwirrend, ich weiß es. Nie war ich der rechte Mann … für meine Lehrer nicht, für meinen Bruder, für meinen Vater … und nicht für Euch. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht in der falschen Zeit geboren bin.« Er hob den Finger, um über ihre Wange zu streichen, und ihr warmer Atem berührte seine Hand. »Wenn ich die Welt sehe, wie sie sich mir darstellt, empfinde ich nur tiefe Einsamkeit.«
»Einsamkeit?« Vara setzte sich auf. Die Pelzdecke glitt herab, und das Mondlicht malte Streifen auf die glatte Elfenbeinhaut. »Bei meinem Stamm, Josua, Ihr seid ein grausamer Mensch! Immer noch bestraft Ihr mich für den Fehler, der Prinzessin helfen zu wollen. Wie könnt Ihr mein Bett teilen und Euch einsam nennen? Geht fort, Ihr Kopfhänger, schlaft mit Euren kalten Nordmädchen oder in einer Mönchszelle. So geht doch!«
Sie schlug nach ihm, und er packte ihren Arm. Trotz ihrer Schlankheit war sie kräftig und versetzte ihm mit der anderen Hand zwei Schläge, bevor er sich über sie rollen und sie mit seinem Gewicht festhalten konnte.
»Friede, Herrin, Friede!« sagte er und lachte, obwohl sein Gesicht brannte. Vara starrte ihn finster an und wand sich, um freizukommen. »Ihr habt recht«, erklärte er. »Ich habe Euch gekränkt und bitte um Verzeihung. Ich heische Frieden.« Er beugte sich über sie und küßte ihren Hals und die zorngerötete Wange.
»Kommt näher, und ich werde Euch beißen«, zischte sie. Ihr Körper bebte unter seinem. »Ich hatte Angst um Euch, als Ihr in die Schlacht zogt, Josua. Ich dachte, Ihr würdet sterben.«
»Ich hatte nicht weniger Angst, Herrin. Es gibt so vieles auf der Welt, vor dem man sich fürchten kann.«
»Und nun fühlt Ihr Euch einsam.«
»Einsam«, sagte der Prinz und bot ihr die Lippen zum Hineinbeißen, »kann man sich in der vornehmsten und besten Gesellschaft fühlen.«
Ihr Arm, wieder frei, schlang sich um seinen Hals und zog ihn zu ihr. Das Mondlicht tauchte ihre verschlungenen Glieder in Silber.
Josua ließ seinen Beinlöffel in die Suppenschale zurücksinken und beobachtete zornig die kleinen Strudel, die die Oberfläche kräuselten. Der Speisesaal summte vom Lärm vieler Stimmen.
»Ich kann nicht essen. Ich muß es wissen!«
Vara, die schweigend, aber mit ihrem gewöhnlichen guten Appetit aß, warf ihm über den Tisch einen beunruhigten Blick zu.
»Was immer auch geschieht, Prinz«, meinte Deornoth schüchtern, »Ihr braucht Eure Kraft.«
»Ihr werdet sie brauchen, um zu Eurem Volk zu sprechen, Prinz Josua«, bemerkte Isorn, den Mund voll Brot. »Die Menschen sind aufgeregt und verunsichert. Der König ist abgezogen. Warum feiern wir kein Fest?«
»Ihr wißt verdammt gut, warum nicht!« fauchte Josua und hob die Hand an die schmerzende Schläfe. »Ihr müßt doch sehen, daß es eine Falle ist – daß Elias niemals so leicht aufgeben würde!«