»Wenn Ihr meint«, antwortete Isorn, schien jedoch nicht recht überzeugt zu sein. »Das heißt aber nicht, daß die Leute, die in der inneren Burg eingepfercht sind wie Vieh –«, er deutete mit der großen Hand auf die Menschenmenge, die sich von allen Seiten um die Tafel des Prinzen drängte (die meisten saßen auf dem Boden oder an den Wänden des Speisesaales, weil Stühle so selten waren, daß nur die Alleredelsten Anspruch darauf hatten) –, »daß sie es verstehen werden. Glaubt es einem Mann, der einen Höllenwinter eingeschneit in Elvritshalla verbracht hat.« Isorn biß einen weiteren großen Kanten von seinem Brot ab.
Josua seufzte und wandte sich Jarnauga zu. Der alte Mann, dessen Schlangentätowierungen im Lampenlicht auf unheimliche Art lebendig wirkten, war in ein Gespräch mit Vater Strangyeard vertieft.
»Jarnauga«, sagte der Prinz ruhig. »Du wolltest mir mit über einen Traum sprechen, den du gehabt hast.«
Der alte Rimmersmann entschuldigte sich bei dem Priester.
»Ja, Josua«, antwortete er dann und beugte sich nahe zu ihm, »aber vielleicht sollten wir warten, bis wir unter vier Augen reden können.« Er spitzte die Ohren nach dem Lärm im Speisesaal. »Andererseits könnte uns hier kein Mensch belauschen – und wenn er unter Eurem Stuhl säße.« Er zeigte ein frostiges Lächeln. »Ich habe wieder Träume gehabt«, fuhr er fort, und seine Augen unter den dichten Brauen glänzten hell wie Edelsteine. »Ich besitze nicht die Macht, sie zu rufen, aber manchmal kommen sie von allein. Mit den Männern, die wir zum Urmsheim geschickt haben, ist etwas vorgefallen.«
»Etwas?« Josuas Gesicht war düster und schlaff.
»Ich habe ja nur geträumt«, versetzte Jarnauga abwehrend, »aber ich fühlte ein gewaltiges Aufreißen – Schmerz und Entsetzen – und den Jungen Simon, der rief … voller Furcht und Zorn rief er … und dann noch etwas anderes…«
»Könnte das, was ihnen widerfahren ist, die Ursache des Sturmes sein, den du heute morgen gesehen hast?« fragte der Prinz mit bleischwerer Stimme, als höre er die schlechte Nachricht, auf die er schon lange wartete.
»Ich glaube nicht. Urmsheim liegt in einer Bergkette weiter östlich, hinter dem Drorshullsee und jenseits der Öden.«
»Sind sie noch am Leben?«
»Das kann ich nicht wissen. Es war ein Traum, und nur ein kurzer und wunderlicher.«
Später wanderten die beiden stumm über die hohen Burgmauern. Der Wind hatte die Wolken vertrieben, und der Mond verwandelte die verlassene Stadt unter ihnen in Knochen und Pergament.
Josua starrte in den schwarzen Nordhimmel und stieß dampfend den Atem aus. »Damit ist auch unsere schwache Hoffnung auf Dorn dahin.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Das war auch nicht nötig. Und ich nehme an, du und Strangyeard seid auch nicht näher daran herauszufinden, was aus Fingils Schwert Minneyar geworden ist?«
»Leider nein.«
»Was ist dann noch nötig, damit unser Untergang feststeht? Gott hat uns einen grausamen Streich –« Josua brach ab, als der alte Mann ihn am Arm packte.
»Prinz«, sagte er und spähte mit schmalen Augen nach dem Horizont, »Ihr überzeugt mich davon, daß man niemals die Götter herausfordern soll, selbst wenn es nicht die eigenen sind.« Er klang erschüttert, zum ersten Mal alt.
»Was meinst du?«
»Ihr habt gefragt, was man uns noch antun könnte?« Der alte Mann schnaubte in bitterer Belustigung. »Seht Ihr die Sturmwolke, das schwarze Gewitter im Norden? Es kommt auf uns zu – und zwar mit großer Geschwindigkeit.«
Der junge Ostrael aus Runchester stand schlotternd auf der Vormauer und dachte über etwas nach, das sein Vater einmal gesagt hatte.
»Es ist gut, wenn du deinem Prinzen dienst. Siehst ein Stück von der Welt, Junge, wenn du Soldat wirst«, hatte Firsfram ihm erzählt und seinem Sohn die ledrigen Bauernhände auf die Schultern gelegt, während seine Mutter mit roten Augen stumm zugeschaut hatte. »Vielleicht kommst du sogar bis zu den südlichen Inseln oder nach Naglimund, jedenfalls heraus aus diesem verdammten Frostmarkwind.«
Sein Vater lebte nicht mehr. Letzten Winter war er verschwunden, in jenem grausam kalten Decander von Wölfen verschleppt … Wölfen oder etwas anderem, denn es wurde nie eine Spur von ihm gefunden. Und Firsframs Sohn, der das Leben im Süden noch nicht zu kosten bekommen hatte, stand im eisigen Wind auf einer Mauer und fühlte, wie ihm die Kälte bis ins innerste Herz drang.
Ostraels Mutter und Schwestern hausten mit Hunderten anderer Heimatloser unten in Behelfsbaracken in der dicken steinernen Feste von Naglimund. Die Burgmauern boten weit besseren Schutz vor dem Wind als Ostraels hohe Warte, aber selbst Steinmauern, und mochten sie noch so dick sein, konnten die furchtbare Musik des heranziehenden Sturmes nicht abhalten.
Angstvoll, aber unwiderstehlich wurden Ostraels Augen von dem dunklen Fleck angezogen, der brodelnd am Horizont hing und sich im Näherkommen ausbreitete wie graue Tinte, die man in Wasser gießt. Es war ein Klecks, eine leere Stelle, als hätte man die Wirklichkeit dort fortgerieben, eine Stelle, an der der Himmel selbst umzukippen und die Wolken wie durch einen Trichter nach unten zu pressen schien, wo sie sich in eine langsam dahinwirbelnde Masse verwandelten, der Schweif eines Wirbelsturmes. Von Zeit zu Zeit zuckten helle Blitzstacheln über das Gewitter hinweg. Und immer und immer wieder ließ sich das grausige Trommeln vernehmen, fern wie das Prasseln von Regen auf einem festen Dach, hartnäckig wie das Klappern von Ostraels Zähnen.
Die heiße Luft und die sagenhaften, sonnenfleckigen Hügel von Nabban kamen Firsframs Sohn immer mehr wie die Geschichten aus dem Buch Ädon vor, die der Priester erzählte, ein Stückchen imaginärer Trost, der einem durchs Leben half und das Grauen des unausweichlichen Todes verschleiern sollte.
Immer näher kam der Sturm, von Trommeln surrend wie ein Wespennest.
Deornoths Laterne flackerte in der steifen Brise und wäre um ein Haar ausgegangen; er hielt den Mantel davor, bis die Flamme wieder stetig leuchtete. Neben ihm stand Isorn, Isgrimnurs Sohn und starrte in die kalte, von Blitzen zerkratzte Finsternis hinaus.
»Gottes Baum! Es ist schwarz wie die Nacht«, stöhnte Deornoth. »Kaum Mittag vorbei, und ich kann fast nichts mehr sehen.«
Isorn öffnete den Mund, einen dunklen Schlitz im blassen, von der Laterne beschienenen Gesicht, aber es kam kein Ton heraus. Seine Kiefer mahlten.
»Alles wird gut«, sagte Deornoth, den die Furcht des jungen Rimmersmannes ansteckte. »Es ist nur ein Gewitter – irgend so ein übler, kleiner Trick von Pryrates…« Noch während er es aussprach, wußte er, daß es eine Lüge war. Die schwarzen Wolken, welche die Sonne verdeckten und die Nacht bis vor die Tore von Naglimund schleiften, brachten eine Angst mit sich, die sich wie eine Zentnerlast auf sein ganzes Ich legte, wie der steinerne Deckel eines Sarkophages. Was war das für eine magische Beschwörung, was für ein Zauber, der ihm diesen eisigen Speer des Grauens tief in die Eingeweide stieß?
Der Sturm trieb weiter auf sie zu, ein Klumpen Schwärze, der sich auf beiden Seiten weit über die Mauern der Burg hinausdehnte und noch die höchsten Zinnen überragte, durchzogen vom blauweißen Flackern der Blitze. Sekundenlang traten die zusammengekauerte Stadt und das Land ringsum klar hervor, dann versank alles wieder in Finsternis. Die hämmernden Trommelschläge fanden ihr Echo an der Vormauer.
Als der Blitz wieder aufflammte und für eine Sekunde das gestohlene Tageslicht nachäffte, entdeckte Deornoth etwas, das ihn zurückfahren und Isorns breiten Arm so fest umklammern ließ, daß der Rimmersmann zusammenzuckte.
»Hol den Prinzen«, sagte Deornoth mit klangloser Stimme.
Isorn sah auf und vergaß über Deornoths merkwürdigem Benehmen die eigene abergläubische Furcht vor dem Sturm. Das Gesicht des jungen Naglimunders war schlaff und leer wie ein alter Mehlsack, und seine Fingernägel kratzten, von ihm selbst unbemerkt, ein blutiges Rinnsal in Isorns Arm.