»Was … was ist?«
»Hol Prinz Josua«, wiederholte Deornoth. »Schnell!«
Der Rimmersmann warf seinem Freund noch einen Blick zu, schlug das Zeichen des Baumes und stolperte den Wehrgang entlang zur Treppe.
Betäubt, bleischwer, stand Deornoth da und wünschte sich nur, am Stierrückenberg gefallen zu sein – auch wenn es ein schimpflicher Tod gewesen wäre – und nicht sehen zu müssen, was dort unten auf ihn wartete.
Als Isorn mit dem Prinzen und Jarnauga zurückkam, stand Deornoth mit weit aufgerissenen Augen noch immer an derselben Stelle. Man brauchte nicht mehr zu fragen, was er sah, denn der Blitz erhellte jeden Winkel.
Ein riesiges Heer war nach Naglimund gekommen. Aus dem wirbelnden Dunst des Gewitters erhob sich ein unendlicher Wald borstiger Speere. Eine Milchstraße leuchtender Augen glänzte in der Dunkelheit. Wieder rollten die Trommeln wie Donner, und über Burg und Stadt senkte sich der Sturm wie ein gewaltiges, geblähtes Zelt aus Regen, schwarzen Wolken und eisigem Nebel.
Die Augen sahen zu den Mauern hinauf – Tausende glitzernder Augen voll grimmiger Vorfreude. Weißes Haar strömte im Wind, schmale weiße Gesichter unter dunklen Helmen richteten sich nach oben und starrten auf die Wälle von Naglimund. In einem neuerlichen Blitz von Himmelsfeuer blinkten blaue Speerspitzen. Schweigend spähten die Fremdlinge in die Höhe wie eine Armee von Gespenstern, bleich wie Blindfische, durchsichtig wie Mondschein. Die Trommeln bebten. Andere, längere Schatten pirschten im Nebel näher – riesenhafte Wesen in Rüstungen und mit großen, knorrigen Keulen. Wieder bebten die Trommeln und verstummten.
»Barmherziger Ädon, schenke mir Ruhe«, betete Isorn. »In deinen Armen will ich schlafen und in deinem Schoße…«
»Wer ist das, Josua?« fragte Deornoth mit einer Stimme so ruhig, als sei er lediglich neugierig.
»Das sind ›Weißfüchse‹ – Nornen«, antwortete der Prinz. »Sie sind Elias' Verstärkungstruppen.« Müde hob er die Hand, als wollte er den Anblick der geisterhaften Legion zudecken. »Die Kinder des Sturmkönigs.«
»Eminenz, ich bitte Euch!« Vater Strangyeard zupfte den alten Mann am Arm, erst sacht, dann immer stärker. Der Alte klammerte sich an die Bank wie eine Haftschnecke, eine kleine Gestalt in der Dunkelheit des Kräutergartens.
»Wir müssen beten, Strangyeard«, wiederholte Bischof Anodis hartnäckig. »Knie nieder!«
Der pochende, hämmernde Lärm des Sturmes wurde lauter. Der Archivar fühlte den panischen Drang fortzulaufen – einfach weg, ganz gleich wohin.
»Dies ist … es ist keine natürliche Dämmerung, Bischof. Ihr müßt hineingehen, jetzt sofort. Bitte.«
»Ich wußte, daß ich nicht hätte hierbleiben sollen. Ich habe Prinz Josua gesagt, er sollte sich dem rechtmäßigen König nicht widersetzen«, erklärte Anodis anklagend. »Gott zürnt uns. Wir müssen beten, daß er uns den rechten Weg zeigt – wir müssen seines Martyriums am Baum gedenken…« Er machte krampfhafte Handbewegungen, als schlage er nach Fliegen.
»Gott? Das hier ist nicht Gottes Werk«, erwiderte Strangyeard, und sein sonst so freundliches Gesicht verfinsterte sich. »Dies ist das Werk Eures ›rechtmäßigen Königs‹ – seines und seines zahmen Zauberers.«
Der Bischof achtete nicht auf ihn. »Gesegneter Usires«, Stammelte er und wich vor dem Priester in das dunkle Gewirr des Hohnblatt-Beetes zurück. »Wir, die wir demütig zu dir flehen, bereuen unsere Sünden. Wir haben uns deinem Willen widersetzt und damit deinen gerechten Zorn erregt…«
»Bischof Anodis!« rief Strangyeard unruhig und ärgerlich zugleich und trat einen Schritt näher, um überrascht stehenzubleiben. Eine dichte, brodelnde Kälte schien sich über den Garten zu legen. Und während der Archivar noch schaudernd in der immer eisiger werdenden Luft stand, verstummte der Trommelschlag.
»Da ist etwas…« Ein frostiger Wind schlug Strangyeard die Kapuze ins Gesicht.
»O wahrlich, schwer haben wir gesündigt in unserem Hochmut, wir armseligen Menschlein!« trompetete Anodis, daß es durch das Hohnblatt raschelte. »Wir b-beten … wir … b-b-beten…« Er wurde langsamer und seine Stimme seltsam schrill.
»Bischof?«
In der Tiefe des Hohnblattes gab es eine schaudernde Bewegung. Vor Strangyeard tauchte mit weit aufgerissenem Mund das Gesicht des alten Mannes auf. Etwas schien nach ihm zu greifen; ringsum spritzte Erde und machte die Ereignisse im Schatten der Pflanzen noch unübersichtlicher. Der Bischof schrie, ein dünner, greinender Laut.
»Anodis!« Strangyeard stürzte sich in das Hohnblatt.
Das Schreien brach ab. Gleich darauf stand Strangyeard vor der zusammengesunkenen Gestalt des Bischofs. Langsam, als offenbare er den Abschluß eines komplizierten Kunststückes, rollte der alte Kleriker zur Seite.
Ein Teil seines Gesichtes war ein roter Blutstrom. Am Boden daneben lag ein schwarzer Kopf wie eine von einem vergeßlichen Kind fortgeworfene Puppe. Der Kopf, emsig kauend, wandte sich grinsend Strangyeard zu. Die winzigen Augen waren bleich wie weiße Johannisbeeren, der schüttere Bart glänzte vom Blut des Bischofs. Im selben Augenblick schossen auf beiden Seiten zwei weitere Köpfe aus der Erde. Der Archivar machte einen Schritt zurück. In seiner Kehle steckte ein Schrei, fest verkeilt wie ein Stein. Wieder bebte der Boden – hier, dort, überall. Dünne schwarze Hände wühlten sich hervor wie Maulwurfsschnauzen.
Strangyeard taumelte zurück und fiel hin. Mühsam schleppte er sich wieder auf den Weg, überzeugt, daß sich jede Sekunde eine feuchtkalte Hand um seinen Knöchel legen würde. Sein Mund war zu einem starren Grinsen der Furcht verzerrt, aber er brachte keinen Ton heraus. Im Gebüsch hatte er die Sandalen verloren und wankte nun auf lautlosen nackten Füßen den Pfad zur Kapelle hinauf. Eine feuchte Decke aus Schweigen schien über der Welt zu liegen; sie erstickte ihn und drückte ihm das Herz ab. Selbst das Krachen der hinter ihm zufallenden Kapellentür wirkte gedämpft. Als er mit zitternden Fingern den Riegel vorschob, sank ein Vorhang aus verschwommenem Grau über seine Augen, und er ließ sich dankbar hineinfallen wie in ein weiches Bett.
Zwischen den Nornen leuchteten jetzt wie Blüten in einem Mohnfeld die Flammen unzähliger Fackeln auf, verwandelten die grausig schönen Gesichter in scharlachrote Umrisse und vergrößerten den Umfang der hinter ihnen lauernden Hunen in ihrer Kriegsausrüstung ins Groteske. Soldaten hasteten auf die Burgmauern, nur um in entsetztem Schweigen hinunterzustarren.
Fünf gespenstische Gestalten auf Pferden, so blaß wie Spinnenseide, ritten auf den freien Platz vor der Vormauer. Der Fackelschein spielte in ihren weißen Kapuzenmänteln, und auf den langen, rechteckigen Schilden glomm und pochte die rote Pyramide von Sturmspitze. Furcht schien die Verhüllten zu umgeben wie eine Wolke, die in die Herzen aller drang, die sie erblickten. Die Zuschauer auf den Wällen spürten, wie sie eine schreckliche, hilflose Schwäche erfaßte.
Der vorderste Reiter hob den Speer, die vier hinter ihm folgten seinem Beispiel. Dreimal schlugen die Trommeln.
»Wo ist der Herr von Ujin e-d'a Sikhunae – der Falle, die den Jäger fängt?« Die Stimme des ersten Reiters war ein spöttisches, hallendes Stöhnen, wie Wind in einer langen Schlucht. »Wo ist der Herr des Hauses der Tausend Nägel?«
Lange Augenblicke holte der lastende Sturm Atem, bevor die Antwort kam.
»Hier bin ich.« Josua trat vor, ein schmaler Schatten auf dem Torhaus. »Was sucht eine so seltsame Schar von Reisenden an meiner Tür?« Seine Stimme war ruhig, aber es lag ein winziges Zittern darin.
»Nun … wir sind gekommen, um nachzusehen, ob die Nägel rostig und wir stark geworden sind.« Die Worte kamen langsam, mit zischender Luft hervorgestoßen, als sei der Reiter das Sprechen nicht gewöhnt. »Wir sind gekommen, Sterblicher, um uns von dem, was uns gehört, ein kleines Stück zurückzuholen. Dieses Mal ist es Menschenblut, das den Boden von Osten Ard netzen wird. Wir sind gekommen, dein Haus dem Erdboden gleich zu machen.«