In den labyrinthischen Gängen des Wohnflügels war es ruhiger. Zwar waren auch hier die Nornen eingedrungen; ein paar Leichen lagen zusammengekrümmt an den Wänden oder ausgestreckt auf den Steinfliesen. Aber die meisten Menschen waren in die Kapelle und den Speisesaal geflohen, und die Nornen hatten sich nicht damit aufgehalten, nach einzelnen zu suchen. Das würde später kommen.
Auf Josuas befehlenden Ruf hin entriegelte Isorn die Tür. Isgrimnurs Sohn bewachte mit Einskaldir und einer Handvoll erkynländischer und Rimmersgard-Soldaten die Herrin Vara und die Herzogin Gutrun. Auch ein paar von den Höflingen hatten hier Zuflucht gesucht, unter ihnen Strupp und der Harfner Sangfugol.
Während der Prinz sich kalt aus Varas tränenreicher Umarmung löste, fand Strangyeard auf einem Lager in der Ecke Jarnauga, um dessen Kopf ungeschickt ein blutgetränkter Verband gewickelt war.
»Das Dach der Bibliothek ist eingestürzt«, erklärte der alte Mann mit bitterem Lächeln. »Ich fürchte, die Flammen haben alles vernichtet.«
Für Vater Strangyeard war das in gewisser Weise der härteste Schlag von allen. Von neuem brach er in Schluchzen aus, und die Tränen liefen ihm sogar unter der Augenklappe hervor.
»Schlimmer … es hätte schlimmer sein können«, schluckte er endlich. »Auch du hättest dahingerafft werden können, mein Freund.«
Jarnauga schüttelte den weißen Kopf und zuckte zusammen. »Nein. Noch nicht. Aber bald. Doch etwas habe ich gerettet.« Aus seinen Kleidern zog er die zerknitterten Pergamente mit Morgenes' Handschrift; das oberste Blatt war blutverschmiert.
»Bring es in Sicherheit. Ich hoffe, daß es noch nützlich sein wird.«
Strangyeard nahm das Bündel vorsichtig entgegen, band es mit einer Schnur von Josuas Tisch zusammen und ließ es in die Innentasche seiner Kutte gleiten. »Kannst du stehen?« fragte er Jarnauga.
Der alte Mann nickte behutsam, und der Priester half ihm auf.
»Prinz Josua«, begann Strangyeard und hielt Jarnaugas Ellenbogen fest. »Mir ist etwas eingefallen.«
Der Prinz, in seiner dringenden Beratung mit Deornoth und den anderen unterbrochen, musterte den Archivar ungeduldig.
»Was denn?« Durch die versengten Augenbrauen schien Josuas Stirn weiter denn je hervorzutreten, ein bleicher, gewölbter Mond unter dem kurzgeschorenen Haar. »Soll ich dir vielleicht eine neue Bibliothek bauen?« Draußen wuchs der Tumult. Der Prinz lehnte sich erschöpft gegen die Wand. »Es tut mir leid, Strangyeard. Das war eine dumme Bemerkung. Was ist dir eingefallen?«
»Es gibt einen Weg ins Freie.«
Mehrere schmutzige, verzweifelte Gesichter fuhren herum.
»Was?« fragte Josua und beugte sich gespannt vor. »Sollen wir zum Tor hinausmarschieren? Ich höre, daß man es für uns geöffnet hat.«
Strangyeards Bewußtsein der Dringlichkeit gab ihm die Kraft, den Blick des Prinzen auszuhalten. »Es gibt einen verborgenen Gang, der aus dem Wachraum hinaus und zum Osttor führt«, erklärte er. »Ich sollte es wissen – Ihr habt mich bei den Vorbereitungen für die Belagerung monatelang Dendinis' Pläne der Burg anstarren lassen.« Er dachte an die unersetzlichen Rollen brauner Pergamente, in verblaßter Tinte mit Dendinis' sorgfältigen Notizen bedeckt, jetzt Asche, verkohlt in den Trümmern der Bibliothek. Er kämpfte neue Tränen nieder. »Wenn … wenn wir es bis d-dorthin schaffen, können wir vielleicht über die Steige in die Weldhelmberge fliehen.«
»Und danach?« erkundigte sich Strupp verdrossen. »In den Bergen verhungern? Im Altherzwald von Wölfen aufgefressen werden?«
»Möchtest du vielleicht lieber gleich gefressen werden, und zwar von weniger angenehmen Geschöpfen?« fauchte Deornoth ihn an. Die Worte des Priesters hatten sein Herz schneller schlagen lassen. Die Rückkehr einer schwachen Hoffnung war fast allzu schmerzlich, aber er würde alles in Kauf nehmen, um seinen Prinzen in Sicherheit zu bringen.
»Wir werden uns den Weg freikämpfen müssen«, sagte Isorn. »Ich kann schon hören, wie sich die Nornen im Wohnflügel verteilen. Wir haben Frauen und einige Kinder unter uns.«
Josuas Blick fiel auf fast zwanzig müde, verängstigte Gesichter im Raum.
»Besser draußen zu sterben, als hier lebendig verbrannt zu werden, meine ich«, erklärte er und hob die Hand in einer Gebärde des Segens oder der Selbstaufgabe. »Beeilen wir uns.«
»Noch eines, Prinz Josua«, meldete sich Strangyeard noch einmal zu Wort, während er dem sich mühsam fortschleppenden Jarnauga behilflich war. »Wenn wir das Tunneltor erreichen, müssen wir noch mit einer weiteren Schwierigkeit fertig werden. Der Gang ist zur Verteidigung, nicht zur Flucht gebaut worden. Man kann ihn von innen ebenso leicht öffnen wie schließen.«
Josua wischte sich Asche von der Stirn. »Du willst sagen, daß wir einen Weg finden müssen, ihn hinter uns zu versperren?«
»Wenn wir überhaupt eine Hoffnung auf Flucht haben wollen, ja!«
Der Prinz seufzte. Aus einer Schnittwunde an der Lippe tropfte Blut auf sein Kinn. »Wir wollen erst einmal bis zu diesem Tor kommen. Danach können wir tun, was erforderlich ist.«
Sie stürmten alle auf einmal aus der Tür, zur Verblüffung zweier auf dem Korridor wartender Nornen. Dem vorderen spaltetete Einskaldir krachend mit der Axt den Helm, daß im dämmrigen Gang die Funken stoben. Bevor der andere mehr tun konnte, als das kurze Schwert zu heben, war er zwischen Isorn und einem der Wachsoldaten von Naglimund aufgespießt. Deornoth und der Prinz führten die Hofleute hastig weiter.
Der Schlachtenlärm war weitgehend verstummt. Nur ab und zu hallte ein Schmerzensschrei oder aufsteigender Triumphgesang durch die leeren Flure. Rauch, der in die Augen biß, leckende Flammen und die Spottlieder der Nornen ließen den Wohnflügel wie eine furchtbare Unterwelt, ein Labyrinth am Rande des Großen Abgrundes erscheinen.
In den verwüsteten Ruinen des Schloßgartens fielen schnatternde Gräber über sie her. Einer der Soldaten brach, ein zackiges Bukkenmesser im Rücken, tot zusammen, und noch während der Rest der Flüchtlinge die anderen abwehrte, wurde eine von Varas Dienerinnen kreischend in einen Spalt der schwarzen Erde gezerrt. Deornoth sprang vor, um sie zu retten, und durchbohrte einen sich windenden, pfeifenden, schwarzen Körper mit seiner Schwertspitze; aber er kam zu spät. Nur ihr zierlicher Pantoffel, der im regennassen Schlamm lag, zeigte noch, daß sie überhaupt je existiert hatte.
Zwei der gewaltigen Hunen hatten die Weinkeller entdeckt und prügelten sich vor dem Wachhaus der inneren Burg betrunken um das letzte Faß. Brüllend vor Wut, gingen sie immer wieder mit Keulen und Klauen aufeinander los. Der Arm des einen Riesen hing schlaff herunter, und der andere hatte eine so fürchterliche Kopfwunde davongetragen, daß sein Gesicht wie ein blutiges Laken aussah. Trotzdem hackten sie weiter aufeinander ein und fauchten sich inmitten des Trümmerhaufens aus zerbrochenen Fässern und zerschmetterten Leichnamen der Verteidiger von Naglimund in ihrer unverständlichen Sprache an.
Josua und Strangyeard duckten sich am Rand der Gärten in den Schlamm und spähten durch den strömenden Regen hinüber.
»Die Tür zum Wachraum ist zu«, sagte Josua. »Vielleicht schaffen wir es über den offenen Hof, aber wenn sie von innen verriegelt ist, bedeutet das unser Ende. Wir können sie nie so schnell aufbrechen.«
Strangyeard zitterte. »Und selbst wenn … dann könnten wir sie nicht mehr hinter uns zuschließen.«
Josua sah auf Deornoth, der gar nichts sagte.