Cadrach zog ihn zu einem Platz an der hinteren Wand; die Tischplatte war so rissig und löchrig, daß es Simon weh tat, als er seine zerschundenen Ellenbogen darauf stützte. Der Mönch ließ sich ihm gegenüber nieder, lehnte sich an die Wand und streckte seine Beine über die ganze Länge der Bank aus. Statt der Sandalen, die Simon erwartet hätte, trug der Mönch zerfetzte Stiefel, die vom Wetter und der starken Beanspruchung aufgeplatzt waren.
»Herr Wirt! Wo seid Ihr, würdiger Schenke?« rief Cadrach. Zwei Einheimische mit dicht gerunzelten Brauen und blaurasiertem Kinn, von denen Simon hätte schwören können, sie seien Zwillinge, sahen vom Nebentisch herüber, Mißbilligung in jede Furche ihrer Gesichter geschrieben. Nach kurzem Warten erschien der Eigentümer, ein bärtiger Mann mit faßförmigem Brustkasten und einer tiefen Narbe über Nase und Oberlippe.
»Ah, da seid Ihr ja«, begrüßte ihn Cadrach. »Seid gesegnet, lieber Sohn, und bringt uns jedem einen Krug Eures besten Biers. Außerdem seid so gut und schneidet uns etwas von der Keule dort ab – und dazu zwei dicke Brotscheiben, um den Saft aufzufangen. Vielen Dank, junger Freund.«
Der Eigentümer des Gasthofs zog bei Cadrachs Worten ein finsteres Gesicht, nickte jedoch kurz mit dem Kopf und entfernte sich. Dabei hörte Simon ihn »… Hernystiri-Lump…« murmeln.
Bald kam das Bier, dann das Fleisch, dann weiteres Bier. Zuerst schlang Simon alles hinunter wie ein verhungerter Hund, aber nachdem er den ersten verzweifelten Heißhunger gestillt und sich im Raum umgesehen hatte, um sich zu vergewissern, daß niemand ihnen ungebührliche Aufmerksamkeit widmete, verlangsamte er sein Tempo und fing an, Bruder Cadrachs weitschweifigen Reden zuzuhören.
Der Hernystiri war ein wundervoller Geschichtenerzähler, trotz seines schnarrenden Akzents, der ihn manchmal etwas schwer verständlich machte. Die Geschichte vom Harfner Ithineg und seiner langen, langen Nacht erheiterte Simon ungemein, obwohl er ein wenig schockiert war, sie ausgerechnet von einem Mann im geistlichen Gewand zu hören. Über die Abenteuer des Roten Hathrayhinn und der Sithifrau Finaju mußte er so lachen, daß er sich Bier über das ohnehin bekleckerte Hemd spritzte.
Sie hatten lange gegessen; das Gasthaus war bereits halb geleert, als der bärtige Wirt ihnen zum vierten Mal die Becher füllte. Mit weit ausholenden Gebärden erzählte Cadrach Simon von einem Kampf, dessen Zeuge er einmal in den Docks von Ansis Pelippé in Perdruin gewesen war. Zwei Mönche, erklärte er, hatten einander bei einem Streit, in dem es darum ging, ob unser Herr Usires einen Mann auf der Insel Grenammam auf magische Weise von der Verzauberung in ein Schwein befreit hatte oder nicht, beinahe bewußtlos geprügelt. Gerade an der aufregendsten Stelle – Bruder Cadrach wedelte bei seiner Schilderung derart begeistert mit den Armen, daß Simon fürchtete, er werde von der Bank herunterfallen – knallte der Schankwirt ganz laut einen Bierkrug auf den Tisch. Cadrach, mitten im Ausruf unterbrochen, schaute auf.
»Nun, guter Herr?« erkundigte er sich und hob eine buschige Braue. »Und was können wir für Euch tun?«
Der Wirt stand mit verschränkten Armen da, eine mißtrauische Miene im verkniffenen Gesicht. »Hab Euch bis jetzt Kredit gegeben, weil Ihr ein Mann des Glaubens seid, Vater«, antwortete er, »aber ich muß jetzt bald schließen.«
»Ist das alles, was Euch fehlt?« Über Cadrachs rundliches Gesicht huschte ein schnelles Lächeln. »Wir sind gleich bei Euch und rechnen ab, guter Mann. Wie war noch Euer Name?«
»Freawaru.«
»Nun, dann habt keine Sorge, wackerer Freawaru. Laßt den Jungen und mich noch diese Krüglein austrinken, dann könnt Ihr Euch schlafen legen.« Mehr oder weniger zufriedengestellt, nickte Freawaru in seinen Bart und stapfte davon, um den Burschen anzubrüllen, der den Bratspieß drehte. Mit einem langen, geräuschvollen Schluck leerte Cadrach seinen Becher und wandte dann sein Grinsen Simon zu.
»Komm, trink aus, Junge. Wir wollen den Mann nicht warten lassen. Ich gehöre zum Orden der Granisier, weißt du, und empfinde Mitgefühl mit dem armen Kerl. Der gute Sankt Granis ist unter anderem der Patron der Gastwirte und Trunkenbolde – eine durchaus natürliche Zusammenstellung.«
Simon lachte vergnügt und leerte den Becher, aber als er ihn niedersetzte, zupfte eine Erinnerung an ihm wie ein Finger. Hatte ihm Cadrach damals, als er ihm in Erchester das erste Mal begegnete, nicht erzählt, daß er zu einem anderen Orden gehörte? Irgend etwas mit v? Vilderivaner?
Der Mönch stocherte mit dem Ausdruck tiefer Versunkenheit in den Taschen seiner Kutte herum, so daß Simon die Frage nicht weiter verfolgte. Gleich darauf zog Cadrach einen ledernen Geldbeutel heraus und ließ ihn auf den Tisch fallen; der Beutel blieb stumm – kein Klirren, kein Klimpern. Cadrachs glänzende Stirn legte sich in bestürzte Falten. Er hielt die Börse ans Ohr und schüttelte sie langsam hin und her. Immer noch kein Laut. Simon riß die Augen auf.
»Ach, Jungchen, Jungchen«, begann der Mönch zu klagen, »schau dir das an! Ich bin heute stehengeblieben, um einem armen Bettler zu helfen – zum Wasser hab ich ihn hinuntergetragen und ihm die blutenden Füße gewaschen –, und sieh dir an, wie er mir meine Freundlichkeit gelohnt hat.« Cadrach drehte den Geldbeutel um, so daß Simon das gähnende Loch sehen konnte, das in die Unterseite geschlitzt war. »Wunderst du dich noch, warum ich manchmal Angst um diese Welt habe, junger Simon? Ich habe dem Mann geholfen, und er – ja, in der Tat, er muß mich beraubt haben, noch während ich ihn trug.« Der Mönch stieß einen tiefen Seufzer aus. »Hm, Junge, ich fürchte, ich muß deine Menschenfreundlichkeit und ädonitische Nächstenliebe in Anspruch nehmen und mir von dir das Geld borgen, das wir hier schuldig sind – ich kann es dir bald zurückzahlen, hab deshalb keine Sorge. Tz, tz«, schnalzte er und schwenkte die aufgeschlitzte Börse vor dem glotzenden Simon, »Oh! Die Welt ist krank vor Sünde.«
Simon hörte Cadrachs Worte nur wie aus weiter Ferne, ein Lautgemurmel in seinem bierumnebelten Kopf. Er schaute nicht auf das Loch in der Börse, sondern auf die Möwe, die mit dickem, blauem Garn auf das Leder gestickt war. Die angenehme Trunkenheit von eben hatte sich in etwas Schweres und Saures verwandelt. Dann hob er den Kopf, bis sein Blick dem Bruder Cadrachs begegnete. Das Bier und die Wärme des Schankraums hatten Simons Wangen und Ohren gerötet, jetzt aber fühlte er, wie aus seinem jagenden Herzen eine noch viel heißere Blutwelle aufstieg.
»Das … ist … mein … Geldbeutel!« sagte er, Cadrach blinzelte wie ein ausgehobener Dachs.
»Was, Junge?« fragte er vorsichtig und rutschte langsam von der Wand weg zur Mitte der Bank. »Ich fürchte, ich habe nicht recht gehört.«
»Dieser … Geldbeutel … gehört … mir.« Simon fühlte den ganzen Kummer, all die ohnmächtige Wut über den Verlust wieder in sich aufsteigen – Judiths enttäuschtes Gesicht, Doktor Morgenes' betrübtes Erstaunen –, dazu das Gefühl von Erschrecken und Übelkeit im Magen, weil man sein Vertrauen mißbraucht hatte. Sämtliche roten Nackenhaare standen ihm zu Berge wie Eberborsten. »Dieb!« schrie er plötzlich und wollte sich auf Cadrach stürzen. Aber der hatte das kommen sehen. Schon war der kleine Mönch von der Bank herunter und huschte rückwärts nach der Tür.
»So warte doch, Junge, du irrst dich!« rief er, aber wenn das wirklich seine Meinung war, so mußte er wenig Vertrauen in die eigene Fähigkeit haben, Simon zu überzeugen. Ohne eine Sekunde innezuhalten, raffte er seinen Stock an sich und sprang zur Tür hinaus. Simon wollte mit einem Satz hinter ihm her, hatte aber kaum den Türpfosten passiert, als er sich von einem Paar bärenartiger Tatzen um die Mitte gepackt fühlte. Gleich darauf schwebte er in der Luft, sein Atem wurde aus ihm herausgepreßt, und die Beine baumelten hilflos nach unten.