Nach den sonderbarsten und schrecklichsten zwei Wochen seines Lebens und einem ganz besonders seltsamen Tag hätte sich Simon eigentlich nicht wundern dürfen, als ihn eine neue und unbekannte Stimme aus der Dunkelheit hinter den Bäumen ansprach, eine Stimme, die nicht dem Sitha gehörte und ganz gewiß nicht dem Holzhauer, der dalag wie ein gefällter Baum.
»Geh hin und hol ihn dir«, sagte die Stimme. »Nimm den Pfeil. Er gehört dir.«
Simon hätte nicht überrascht sein sollen, aber er war es doch. Er sank hilflos zu Boden und fing an zu weinen – ein hartes, würgendes Schluchzen der Erschöpfung und Verwirrung und völligen Hoffnungslosigkeit.
»Oh, Tochter der Berge«, fuhr die merkwürdige neue Stimme fort. »Das sieht gar nicht gut aus.«
XVII
Binabik
Als Simon endlich zu dem Ursprung der neuen Stimme aufsah, wurden seine tränenfeuchten Augen groß vor Erstaunen. Ein Kind kam auf ihn zu.
Nein, kein Kind, aber ein so kleiner Mann, daß sein schwarzhaariger Scheitel Simon wahrscheinlich nicht viel höher als bis zum Nabel reichte. Auch sein Gesicht hatte etwas Kindliches: Die schmalen Augen und der breite Mund dehnten sich beide nach den Backenknochen hin und drückten schlichte gute Laune aus.
»Hier ist kein guter Ort zum Weinen«, sagte der Fremde. Er wandte sich von dem knienden Simon ab und untersuchte kurz den am Boden liegenden Kätner. »Auch ist es mein Empfinden, daß es wenig nützen wird – wenigstens nicht diesem toten Mann.«
Simon wischte sich am Ärmel seines groben Hemdes die Nase und bekam einen Schluckauf. Der Fremde war zu dem bleichen Pfeil getreten, der aus dem Baumstamm neben Simons Kopf herausragte wie ein steifer, gespenstischer Ast.
»Du solltest das an dich nehmen«, wiederholte der kleine Mann; sein Mund verzog sich erneut zu einem breiten Froschgrinsen und enthüllte sekundenlang eine Palisade gelber Zähne.
Er war kein Zwerg wie die Narren und Gaukler, die Simon bei Hof und in der Mittelgasse von Erchester gesehen hatte – trotz seiner breiten Brust schien er im übrigen wohlproportioniert. Seine Kleidung entsprach im wesentlichen der eines Rimmersmannes: Jacke und Hose aus dicker, mit Sehnen zusammengenähter Tierhaut; ein Pelzkragen umrahmte das runde Gesicht. An einem Schulterriemen hing ein großer, ausgebeulter Ledersack, und in der Hand hatte er einen Wanderstab, der aus einem langen, schlanken Knochen geschnitzt zu sein schien.
»Bitte verzeih meine Vorschläge, aber du solltest diesen Pfeil mitnehmen. Es ist ein Weißer Pfeil der Sithi und sehr kostbar, denn er steht für eine Schuld, und die Sithi sind ein gewissenhaftes Volk.«
»Wer … bist du?« fragte Simon und bekam schon wieder Schluckauf. Er fühlte sich ausgewrungen und plattgeklopft wie ein Hemd, das man auf einem Felsen trockengeschlagen hat. Wenn der kleine Mann knurrend und mit geschwungenem Messer aus den Bäumen hervorgestürzt wäre, hätte Simon sich wahrscheinlich auch nicht anders verhalten.
»Ich?« fragte der Fremde und machte eine Pause, als denke er ernsthaft über die Frage nach. »Ein Reisender wie du auch. Ich werde glücklich sein, zu späterer Zeit mehr zu erläutern, aber jetzt sollten wir gehen. Dieser Bursche«, und mit einem Schwung seines Stabes deutete er auf den Holzfäller, »wird zuverlässig nicht lebendiger werden, aber vielleicht verfügt er über Freunde oder eine Familie, die sich erregen könnten, wenn sie ihn hier so ungemein tot vorfinden. Bitte, nimm den Weißen Pfeil, und komm mit mir.«
Mißtrauisch und vorsichtig, wie er war, ertappte Simon sich dabei, daß er trotzdem aufstand. Im Augenblick war es einfach zu anstrengend, nicht zu vertrauen; er hatte nicht mehr die Kraft, wachsam zu bleiben. Ein Teil von ihm hatte nur den einen Wunsch: sich hinzulegen und in Ruhe zu sterben. Er hebelte den Pfeil aus dem Baum. Der kleine Mann war schon vorausmarschiert und im Begriff, den Hügel hinter der Kate hinaufzuklettern. Das kleine Haus hockte so still und ordentlich da, als wäre nichts geschehen.
»Aber…«, keuchte Simon, als er hinter dem Fremden herrannte, der sich erstaunlich schnell bewegte, »… aber was ist mit der Kate? Ich bin … ich bin so hungrig … und es könnte etwas zu essen darin sein…«
Der kleine Mann drehte sich auf dem Kamm des Hügels um und schaute auf den mühsam folgenden Jungen hinunter. »Ich bin aufs äußerste bestürzt!« erklärte er. »Zuerst machst du ihn tot, dann wünschst du seine Vorratskammer zu berauben. Ich fürchte, daß ich mich einem verzweifelten Gesetzlosen angeschlossen habe!« Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging wieder auf die eng zusammenstehenden Bäume zu.
Ein langer, sanft abfallender Hang bildete die andere Seite des Kammes. Simons hinkende Schritte brachten ihn endlich neben den Fremden; bald darauf war er wieder zu Atem gekommen.
»Wer bist du? Und wohin gehen wir?«
Der sonderbare kleine Mann blickte nicht hoch, sondern ließ die Augen von Baum zu Baum schweifen, als suchte er in der ununterbrochenen Gleichförmigkeit des tiefen Waldes nach einer Landmarke. Nach zwanzig stummen Schritten schlug er die Augen zu Simon auf und lächelte sein gedehntes Lächeln.
»Mein Name ist Binbiniqegabenik«, erklärte er, »aber am Kochfeuer nennt man mich Binabik. Ich hoffe, du wirst mir die Ehre erweisen, die kürzere Form der Freundschaft anzuwenden.«
»O ja … gewiß. Woher kommst du?« Ein neuer Schluckauf.
»Ich bin vom Trollvolk aus Yiqanuc«, erwiderte Binabik. »Dem hohen Yiqanuc in den Bergen des Nordens, wo es schneit und weht … und wer bist du?«
Der Junge stierte einen Augenblick mißtrauisch vor sich hin und antwortete dann: »Simon. Simon vom … aus Erchester.«
Es ging alles so schnell, dachte er … wie eine Begegnung auf dem Marktplatz, und dabei steckten sie nach einer höchst ungewöhnlichen Begegnung samt Totschlag mitten im Wald. Heiliger Usires, tat ihm der Kopf weh! Und der Magen erst.
»Wohin … wohin gehen wir?«
»Zu meinem Lager. Aber zuerst muß ich mein Roß finden … oder besser gesagt, sie muß mich finden. Bitte, sei nicht erschreckt.«
Mit diesen Worten steckte Binabik zwei Finger in den breiten Mund und pfiff einen langen, trillernden Ton. Gleich darauf wiederholte er ihn. »Vergiß nicht, sei nicht erschreckt oder verängstigt.«
Ehe er noch über die Worte des Trolls nachdenken konnte, ertönte im Unterholz ein Prasseln wie von einem Waldbrand, und ein riesiger Wolf brach sich Bahn auf die Lichtung. An dem entsetzten Simon vorbei schoß er wie ein zottiger Donnerkeil auf den kleinen Binabik los, der unter dem Angreifer kopfüber zu Boden purzelte.
»Qantaqa!« Der Ruf des Trolls kam erstickt, aber es lag Erheiterung in seiner Stimme. Roß und Reiter rauften auf dem Waldboden. Simon fragte sich verblüfft, ob wohl die ganze Welt außerhalb der Burg so aussah – war denn ganz Osten Ard nur ein Spielplatz für Ungeheuer und Verrückte?
Endlich setzte Binabik sich hin, und Qantaqa schmiegte den großen Kopf in seinen Schoß. »Ich habe sie heute den ganzen Tag alleingelassen«, erläuterte er. »Wölfe besitzen viel Zärtlichkeit und fühlen sich leicht einsam.« Qantaqa grinste von Ohr zu Ohr und schnaufte. Ein großer Teil ihres Umfangs bestand zwar aus dickem grauem Pelz, aber auch so war sie enorm.
»Fühl dich wie zu Hause bei ihr«, lachte Binabik. »Kraul sie an der Nase.«
Trotz der wachsenden Unwirklichkeit seiner Situation brachte Simon das doch nicht über sich. Statt dessen fragte er: »Verzeihung … aber sagtest du nicht, du hättest in deinem Lager etwas zu essen, Meister?«
Der Troll sprang lachend auf und griff wieder zu seinem Stab. »Nicht Meister – Binabik! Und was das Essen angeht: ja. Wir werden zusammen speisen – du, ich, sogar Qantaqa. Komm mit! Aus Achtung für deine Gefühle der Schwäche und des Hungers werde ich gehen und nicht reiten.«