Eine ganze Weile waren Simon und der Troll unterwegs. Streckenweise begleitete sie Qantaqa, aber meistens trottete sie voraus und verschwand in wenigen Sprüngen im dichten Unterholz. Einmal kam sie wieder und leckte sich mit der langen, rosa Zunge die Schnauze.
»Aha«, bemerkte Binabik vergnügt, »einer hat schon gegessen!«
Endlich, als es Simon, dem alles wehtat und er sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt, schon vorkam, als könne er keinen Schritt weiter gehen, und er bei jedem Satz Binabiks nach ein paar Worten den Faden verlor, erreichten sie eine kleine Mulde, in der keine Bäume wuchsen, die aber oben durch ein Gitterwerk ineinander gewachsener Äste überdacht wurde. Neben einem umgestürzten Stamm lag ein Ring geschwärzter Steine. Qantaqa, die neben ihnen hergelaufen war, sprang voraus, um das kleine Tal ringsum abzuschnüffeln.
»Bhojujik mo qunquc, wie meine Leute sagen.« Binabik machte eine die ganze Lichtung umfassende Gebärde. »›Wenn dich die Bären nicht fressen, bist du zu Hause.‹« Er führte Simon zu einem Baumstamm, wo sich der Junge schweratmend fallenließ. Der Troll betrachtete ihn besorgt von Kopf bis Fuß. »Oh«, sagte er schließlich, »du bist doch nicht im Begriff, wieder zu weinen?«
»Nein.« Simon lächelte schwach. Seine Knochen schienen auf ihm zu lasten wie toter Stein. »Ich glaube wenigstens nicht. Ich bin nur schrecklich hungrig und müde. Ich verspreche, nicht zu weinen.«
»Schau her! Ich werde ein Feuer anzünden und anschließend ein Abendessen bereiten.« Rasch sammelte Binabik einen Haufen Stöcke und Zweige und schichtete sie in der Mitte des Steinringes auf. »Es ist Frühlingsholz und feucht«, erklärte er, »aber glücklicherweise kann man mit dieser Schwierigkeit leicht fertigwerden.«
Der Troll ließ den Ledersack von der Schulter gleiten, legte ihn auf die Erde und begann energisch darin herumzuwühlen. Für Simon in seiner vor Müdigkeit wunderlichen Stimmung sah die kleine, hockende Gestalt mehr denn je nach einem Kind aus: Binabik, mit gespitzten Lippen und vor lauter Konzentration zusammengekniffenen Augen in seinen Rucksack starrend – ein Sechsjähriger, der mit tiefem Ernst einen hinkenden Käfer studiert.
»Ha!« sagte der Troll endlich, »es ist gefunden.« Er zog aus dem Sack ein kleines Säckchen, etwa so lang wie Simons Daumen. Daraus nahm er eine Prise von einer pulverartigen Substanz und streute sie über das grüne Holz, holte zwei Steine aus dem Gürtel und schlug sie aneinander. Der herausspringende Funke sprühte kurz auf, und ein dünner Rauchkringel stieg spiralförmig in die Höhe. Gleich darauf ging das Holz in Flammen auf und verwandelte sich in ein fröhlich knisterndes Feuer. Die pulsierende Wärme lullte Simon ein, so heftig auch die Krämpfe in seinem leeren Magen tobten. Sein Kopf fing an zu nicken, zu nicken … Aber halt – ein jäher Anfall von Furcht – wie konnte er so einfach einschlafen, völlig schutzlos in einem wildfremden Lager? Er mußte … er sollte…
»Setz dich hin und wärm dich, Freund Simon.« Binabik klopfte sich den Staub von den Händen und stand auf. »Ich werde sogleich zurückkehren.«
Obwohl sich in seinem Hinterkopf ein tiefes Unbehagen auszubreiten versuchte – wo ging der Troll hin? Seine Kumpane holen? Räuber und Wegelagerer? –, brachte Simon nicht die Energie auf, dem sich entfernenden Binabik auch nur nachzuschauen. Sein Blick war schon wieder auf die tanzenden Flammen geheftet, mit ihren Zungen wie Blütenblätter einer schimmernden Blume … Feuermohn, der im warmen Sommerwind bebte…
Er erwachte aus einer großen, wolkigen Leere und stellte fest, daß der schwere Kopf der grauen Wölfin quer über seinen Schenkeln lag. Binabik beugte sich eifrig beschäftigt über das Feuer. Simon hatte das vage Gefühl, etwas sei nicht ganz richtig daran, daß er einen Wolf auf dem Schoß hatte, aber er konnte nicht die richtigen Marionettenfäden im Kopf ziehen, um etwas daran zu ändern, und eigentlich kam es ja auch nicht darauf an…
Als er das nächste Mal aufwachte, scheuchte Binabik gerade Qantaqa von seinem Schoß und reichte ihm einen großen Becher mit warmem Inhalt.
»Es ist jetzt zum Trinken kühl genug«, bemerkte der Troll und half Simon, das Gefäß an die Lippen zu setzen. Die Brühe roch kräftig und schmeckte köstlich, würzig wie Herbstlaubduft. Er trank alles aus, und es kam ihm vor, als spüre er, wie sie direkt in seine Adern floß, geschmolzenes Blut des Waldes, das ihn wärmte und mit der geheimen Kraft der Bäume erfüllte. Binabik gab ihm einen zweiten Becher, und auch den trank er leer. Ein dichter, bleischwerer Klumpen aus Sorge zwischen Hals und Schultern löste sich auf, fortgeschwemmt von einer Woge der Behaglichkeit. Neue Leichtigkeit durchdrang ihn und brachte zugleich eine widersinnige Schwere mit sich, eine warme, unbestimmte Schläfrigkeit. Als er allem entglitt, vernahm er seinen eigenen, sanftgewiegten Herzschlag, wenn auch gedämpft durch die kitzelnde Wolle der Erschöpfung.
Simon war so gut wie sicher, daß bis zum Sonnenuntergang noch mindestens eine Stunde gefehlt hatte, als er in Binabiks Lager gekommen war; aber als er wieder die Augen aufschlug, war die Waldlichtung hell wie ein frischgeschmiedeter Morgen. Blinzelnd fühlte er, wie die letzten Traumfäden von ihm abfielen – ein Vogel …?
Ein helläugiger Vogel mit einem goldenen Halsband, in dem sich die Sonne spiegelte … ein alter, starker Vogel, die Augen voll von der Weisheit hoher Warten und weiter Fernsicht … in seiner hornigen Kralle einen schönen, regenbogenschimmernden Fisch…
Simon schauderte und hüllte sich enger in den schweren Mantel. Er starrte in die Bäume hinauf, die sich über ihm zum Gewölbe vereinten. Die Sonne verwandelte ihre knospenden Frühlingsblätter in Smaragdfiligran. Er hörte einen stöhnenden Laut und rollte sich zur Seite, um nachzusehen.
Binabik saß mit untergeschlagenen Beinen neben der Feuerstelle und schwankte leicht hin und her. Vor sich hatte er auf einem flachen Stein verschiedene sonderbare, bleiche Gebilde ausgebreitet: Knochen. Es war der Troll, von dem das merkwürdige Geräusch kam – sang er? Simon starrte ihn einen Augenblick an, konnte aber nicht herausfinden, was der kleine Mann da tat. Was für eine seltsame Welt!
»Guten Morgen!« sagte er schließlich. Binabik fuhr wie ertappt in die Höhe.
»Ah! Es ist Freund Simon!« Der Troll grinste über die Schulter und fegte die Gegenstände eilig in seinen geöffneten Ledersack. Dann stand er auf und kam schnell zu Simon herüber. »Wie geht es dir jetzt?« fragte er und bückte sich, um dem Jungen eine kleine, rauhe Hand auf die Stirn zu legen. »Du mußt einen großen Schlaf nötig gehabt haben.«
»Das stimmt.« Simon rückte näher an das kleine Feuer. »Was ist das … dieser Geruch?«
»Ein Paar Waldtauben, die heute morgen mit uns zu speisen geruhen«, lächelte Binabik und deutete auf zwei in Blätter gewickelte Bündel in der Glut am Rand des Lagerfeuers. »Ein paar frisch gesammelte Beeren und Nüsse leisten ihnen Gesellschaft. Ich hätte dich ohnehin bald geweckt, damit du mir hilfst, mich um alle diese Gäste zu kümmern. Sie sind, denke ich, recht wohlschmeckend. Ach, noch etwas – einen Augenblick bitte.« Binabik ging wieder zu seinem Ledersack und zog zwei schmale Päckchen heraus.
»Hier.« Er reichte sie Simon. »Dein Pfeil und noch etwas anderes.« Es waren Morgenes' Papiere. »Du hattest sie im Gürtel stecken, und ich befürchtete, du könntest sie im Schlaf zerbrechen.«
In Simons Brust zuckte ein Verdacht auf. Die Vorstellung, daß jemand, während er schlief, die Schriften des Doktors in die Hand nahm, machte ihn mißtrauisch. Er riß dem Troll das dargereichte Bündel aus der Hand und stopfte es wieder in seinen Gürtel. Die vergnügte Miene des kleinen Mannes wurde betrübt. Simon schämte sich – obwohl man wirklich nicht vorsichtig genug sein konnte – und nahm den Weißen Pfeil, der in dünnen Stoff gewickelt war, sanfter entgegen.
»Danke«, sagte er steif. Binabiks Ausdruck war noch immer der eines Menschen, dessen Freundlichkeit zurückgestoßen wird. Schuldbewußt und verwirrt packte Simon den Pfeil aus. Obwohl er noch nicht dazu gekommen war, ihn genauer zu untersuchen, ging es ihm im Augenblick vor allem darum, Hände und Augen mit irgend etwas zu beschäftigen.