Während sie durch die kühlen, von Vogelgezwitscher erfüllten Hallen des Morgenwaldes wanderten, erklärte Binabik Simon, daß er von den Höhen seiner Heimat Yiqanuc heruntergestiegen war, wie er das anscheinend jedes Jahr einmal zu tun pflegte, weil er »Geschäfte« zu besorgen hatte – eine Reihe von Erledigungen, die ihn bis ins östliche Hernystir und auch nach Erkynland führten. Simon gewann den Eindruck, daß es dabei um eine Art Handel ging.
»Doch ach! mein junger Freund, welche Wirren finde ich in dieser Frühjahrszeit! Eure Völker sind so unruhig, so voller Angst!« Binabik rang in gespielter Aufregung die Hände. »In den äußeren Provinzen ist der König nicht beliebt, nicht wahr? Und in Hernystir fürchten sie ihn. An anderen Orten gibt es Zorn und Hungersnöte. Die Menschen wagen nicht mehr zu reisen, denn die Straßen sind nicht sicher. Nun gut«, er grinste, »wenn du die Wahrheit hören willst, waren die Straßen nie sicher, zumindest nicht in den einsamen Landstrichen; aber es stimmt wirklich, daß sich im Norden von Osten Ard die Lage verschlechtert hat.«
Simon beobachtete die senkrechten Lichtsäulen, die die Mittagssonne zwischen die Baumstämme gesetzt hatte. »Bist du schon einmal nach Süden gereist?« erkundigte er sich endlich.
»Wenn du mit ›Süden‹ südlich von Erkynland meinst, so antworte ich dir mit ›ja, ein paarmal‹. Aber bitte vergiß nicht, daß für mein Volk fast jedes Verlassen von Yiqanuc eine Reise ›nach Süden‹ bedeutet.«
Simon hörte nicht so genau zu. »Bist du allein gereist? War … war … war Qantaqa bei dir?«
Binabik verzog sein Gesicht zu neuen Lachfalten. »Nein. Das war vor langer Zeit, bevor meine Wolfsfreundin geboren wurde, als…«
»Wie bist du … wie bist du überhaupt zu dem Wolf gekommen?« unterbrach Simon. Binabik stieß ein gereiztes Zischen aus.
»Es ist etwas Schwieriges, Fragen zu beantworten, wenn man ständige Unterbrechungen durch weitere Fragen bekommt!«
Simon gab sich Mühe, reuig dreinzublicken, aber er spürte den Frühling wie ein Vogel den Wind im Gefieder. »Verzeihung«, erwiderte er. »Man hat mir schon früher gesagt … ein Freund meinte … daß ich immer zu viele Fragen stelle.«
»Es sind nicht ›zu viele‹«, entgegnete Binabik und schob mit seinem Stab einen niedrig über ihrem Weg hängenden Ast fort, »es ist, daß du eine auf die andere häufst.« Der Troll bellte ein kurzes Lachen. »Nun – welche soll ich dir nun beantworten?«
»Ach, welche du willst. Entscheide du«, antwortete Simon demütig und machte gleich darauf einen Satz, als ihm der Troll mit dem Wanderstab einen leichten Klaps aufs Handgelenk gab.
»Es würde mir gefallen, wenn du nicht servil wärst. Das ist eine Eigenschaft von Markthändlern, die schlechte Ware verkaufen. Mit Sicherheit ziehe ich endlose dumme Fragen vor.«
»Ser … servil?«
»Servil. Schmierig schmeichelnd. Ich liebe es nicht. In Yiqanuc sagen wir: ›Schick den Mann mit der öligen Zunge die Schneeschuhe ablecken.‹«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, daß wir die Schmeichler nicht schätzen. Doch lassen wir das.« Binabik warf den Kopf in den Nacken und lachte. Sein schwarzes Haar umwehte ihn, und die Augen verschwanden fast, als die runden Wangen sich den Brauen näherten. »Lassen wir das! Wir sind so weit gewandert wie die Wanderungen Piqipegs des Verirrten – in unserem Gespräch gewandert, meine ich. Nein, frag mich nichts. Wir wollen hier Rast machen, und ich werde dir nun erzählen, wie ich meine Freundin Qantaqa kennengelernt habe.«
Sie suchten sich einen großen Felsblock, eine Granitformation, die durch den Waldboden gestoßen schien wie eine gefleckte Faust. Die obere Hälfte war in einen breiten Streifen Sonnenlicht getaucht. Der junge Mann und der Troll kletterten hinauf und ließen sich auf der Spitze nieder. Um sie herum schwieg der Wald; langsam setzte sich der Staub, den sie aufgewirbelt hatten. Binabik griff in seinen Rucksack und förderte eine Stange Dörrfleisch und einen Ziegenhautschlauch mit dünnem, saurem Wein zutage. Simon kaute, streifte die Schuhe ab und bewegte in der wärmenden Sonne die wunden Zehen. Binabik musterte die Schuhe mit kritischem Blick.
»Wir werden dir etwas anderes finden müssen.« Er stocherte nach dem zerfetzten, schwarz gewordenen Leder. »Wenn ihm die Füße wehtun, ist die Seele des Menschen in Gefahr.«
Bei dem Gedanken grinste Simon.
Eine Weile verbrachten sie in stiller Betrachtung des Waldes ringsum, des lebendigen Laubwerkes von Altherz. »Nun denn«, begann der Troll schließlich, »das erste, was man begreifen muß, ist, daß mein Volk den Wolf nicht scheut – obwohl wir auch in der Regel keine Freundschaft mit ihm schließen. Trolle und Wölfe haben viele Tausende von Jahren Seite an Seite gelebt, und die meiste Zeit lassen wir einander in Ruhe.
Unsere Nachbarn, wenn man einen so höflichen Ausdruck verwenden kann, die haarigen Männer von Rimmersgard, halten den Wolf für ein gefährliches und ungemein verräterisches Tier. Bist du vertraut mit den Männern von Rimmersgard?«
»O ja.« Simon freute sich, Bescheid zu wissen. »Auf dem Hoch –«, er berichtigte sich sofort, »in Erchester wimmelte es geradezu von ihnen. Ich habe schon mit vielen von ihnen gesprochen. Sie tragen ihre Bärte lang«, fügte er hinzu, um zu beweisen, wie gut er sie kannte.
»Hmmm. Nun, da wir im Hochgebirge leben, wir Qanuc – wir Trolle – und diese Wölfe nicht töten, halten uns die Rimmersgarder für Wolfsdämonen. In ihrem frostverrückten, blutfehdesinnenden Hirn«, Binabik setzte eine Miene komischen Abscheus auf, »steckt der Gedanke, daß das Trollvolk zauberkundig und böse sei. Es hat blutige Kämpfe gegeben, viele, allzuviele, zwischen Rimmersmännern – Crohuk, wie wir sie nennen – und meinem Qanuc-Volk.«
»Das tut mir leid«, sagte Simon und dachte schuldbewußt an die Bewunderung, die er dem alten Herzog Isgrimnur entgegengebracht hatte – der bei näherer Überlegung allerdings auch kein Mensch zu sein schien, der unschuldige Trolle niedermetzeln würde, selbst wenn er sonst als recht reizbar galt.
»Leid? Das sollte es dir nicht tun. Ich nämlich meinerseits finde, daß die Männer – und Frauen – von Rimmersgard ungeschickt und dumm sind und an übermäßiger Körpergröße leiden, aber ich halte sie darum nicht für böse oder glaube, daß man sie totmachen sollte. Ach ja«, seufzte der kleine Mann und schüttelte den Kopf wie ein Priesterphilosoph in einer verrufenen Schenke, »die Rimmersmänner sind mir ein Rätsel.«
»Aber was ist mit den Wölfen?« bohrte Simon und schalt sich sofort innerlich aus, weil er Binabik schon wieder unterbrochen hatte. Diesmal schien es dem Troll nichts auszumachen.
»Mein Volk lebt auf dem zerklüfteten Mintahoq, in dem Gebirge, das die Rimmersgarder Troll-Fjälle nennen. Wir reiten die zottigen Widder mit den behenden Füßen, die wir vom winzigen Lämmchen aufziehen, bis sie genügend Größe besitzen, uns über die Bergpässe zu tragen. Nichts, junger Freund, gibt es auf dieser Welt, das völlig dem Gefühl gleichkommt, ein Widderreiter von Yiqanuc zu sein. Auf deinem Tier zu sitzen und den Pfaden des Daches der Welt zu folgen … mit einem einzigen Sprung über Felsspalten zu setzen, die so sehr tief, so wundersam tief sind, daß ein Stein, den du fallen läßt, einen halben Tag brauchen würde, bis er unten ankommt…«
Binabik lächelte und kniff in seligen Träumen die Augen zusammen. Simon versuchte, sich solche Höhen auszumalen. Dabei wurde ihm auf einmal leicht schwindlig, und er mußte sich mit den Handflächen auf den beruhigenden Stein stützen. Er schaute hinab. Wenigstens lag dieser Gipfel nicht mehr als mannshoch über der Erde.