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»Qantaqa war ein Welpe, als ich sie fand«, fuhr Binabik endlich fort. »Ihre Mutter war vermutlich getötet worden oder vor Hunger gestorben. Sie hat mich angeknurrt, als ich sie entdeckte, eine weiße Pelzkugel, im Schnee verraten durch ihre schwarze Nase.« Er lächelte. »Ja, jetzt ist sie grau. Wölfe – wie Menschen – wechseln oft die Farbe, wenn sie wachsen. Ich merkte, daß ich … gerührt war, weil sie sich verteidigen wollte. Ich nahm sie mit nach Hause. Mein Meister…« Binabik hielt inne. Der rauhe Schrei eines Hähers füllte die Unterbrechung. »Mein Meister sagte, wenn ich sie Qinkipa, der Schneejungfrau, aus den Armen risse, übernähme ich damit Elternpflichten. Meine Freunde hielten mich für unvernünftig. ›Aha!‹ entgegnete ich. ›Ich werde diesen Wolf lehren, mich zu tragen wie ein Widder mit Hörnern.‹ Man glaubte mir nicht – es war etwas, das noch nicht vorgekommen war. So viele Dinge sind Dinge, die noch nicht vorgekommen sind…«

»Wer ist dein Meister?« Unter ihnen rollte sich Qantaqa, die in einer Sonnenpfütze ein Nickerchen gemacht hatte, auf den Rücken und strampelte mit den Beinen. Ihr weißes Bauchfell war üppig wie ein Königsmantel.

»Das, Simon-Freund, ist eine andere Geschichte und keine für heute. Doch, um zum Ende zu kommen, will ich sagen, daß ich Qantaqa tatsächlich beibrachte, mich zu tragen. Das Beibringen war eine sehr –«, er verzog die Oberlippe, »amüsante Erfahrung. Aber ich fühle kein Bedauern darüber. Ich reise viel und weiter als meine Stammesgenossen. Ein Widder ist ein wundervolles Tier zum Springen, aber sein Verstand ist sehr klein. Ein Wolf ist schlau-schlau-schlau, und er ist anhänglich wie eine unbezahlte Schuld. Weißt du, daß Wölfe, wenn sie einen Gefährten wählen, das nur einmal und für ihr ganzes Leben tun? Qantaqa ist meine Freundin, und ich ziehe sie jedem Schaf entschieden vor. Ja, Qantaqa? Ja?«

Die Wölfin setzte sich auf und richtete die großen, gelben Augen auf Binabik. Sie neigte den Kopf und stieß ein kurzes Gebell aus.

»Siehst du?« grinste der Troll. »Komm jetzt, Simon. Ich denke, wir sollten uns ans Marschieren machen, solange die Sonne hoch am Himmel steht.« Er rutschte den Felsen hinunter, und der Junge folgte ihm, auf einem Bein hüpfend, während er seine kaputten Schuhe anzog.

Im Laufe des Nachmittages, während sie zwischen den dichtstehenden Bäumen dahinstapften, beantwortete Binabik Fragen über seine Reisen und zeigte eine beneidenswerte Vertrautheit mit Orten, die Simon nur in seinen Tagträumen besucht hatte. Er sprach von der Sommersonne, die die glitzernden Schliffkanten im Inneren des eisigen Mintahoq heraushob wie der kunstreiche Hammer eines Juwelenschmiedes; vom nördlichsten Ende jenes Waldes Aldheorte, einer Welt aus weißen Bäumen und Stille und den Spuren seltsamer Tiere; von den kalten Dörfern am Rand von Rimmersgard, die noch kaum vom Hof Johan Presbyters gehörten hatten und wo wildblickende, bärtige Männer im Schatten hoher Berge am Feuer kauerten und selbst die tapfersten von ihnen die Wesen fürchteten, die über ihnen durch die heulende Finsternis wanderten. Er erzählte Geschichten von den verborgenen Goldminen von Hernystir, geheimen, schlangenartigen Tunneln, die sich zwischen den Gebeinen des Grianspog-Gebirges tief in die schwarze Erde hineinwanden; und er berichtete von den Hernystiri selbst, kunstreichen, verträumten Heiden, deren Götter in den grünen Feldern wohnten und im Himmel und in den Steinen, und die von allen Menschen die Sithi am besten gekannt hatten.

»Und die Sithi gibt es wirklich«, sagte Simon leise, voller Verwunderung und mit mehr als nur ein wenig Furcht, als er sich erinnerte. »Der Doktor hatte recht.«

Binabik hob eine Augenbraue. »Natürlich gibt es Sithi. Glaubst du denn, sie säßen hier im Wald herum und fragten sich, ob es wirklich Menschen gibt? Was für ein Unfug! Menschen sind im Vergleich zu ihnen nur etwas von Gerade-Eben – wenn auch etwas von Gerade-Eben, das ihnen furchtbaren Schaden zugefügt hat.«

»Es ist ja nur, weil ich vorher noch nie einen gesehen hatte!«

»Auch mich und mein Volk hattest du vorher nie gesehen«, versetzte Binabik. »Du hast auch Perdruin oder Nabban oder das Wiesen-Thrithing noch nie gesehen … bedeutet das etwa, daß sie auch nicht existieren? Welch einen Hort von abergläubischer Torheit besitzt ihr Erkynländer! Ein Mann, der wahre Weisheit sein eigen nennt, sitzt nicht da und wartet, daß die Welt stückweise zu ihm kommt, um ihr Vorhandensein zu beweisen!« Mit gerunzelten Brauen starrte der Troll vor sich hin, so daß Simon fürchtete, ihn beleidigt zu haben.

»Und was tut ein weiser Mann?« fragte er ein wenig trotzig.

»Der weise Mann wartet nicht, daß ihm die Welt ihre Wirklichkeit beweist. Wie kann jemand eine Person von Glaubwürdigkeit sein, bevor er diese Wirklichkeit selber erlebt hat? Mein Meister lehrte mich – und es scheint mir chash, das heißt zutreffend –, daß man sich gegen das Eindringen von Wissen nicht verteidigen darf.«

»Es tut mir leid, Binabik.« Simon trat gegen eine Eichelkapsel, daß sie sich überschlug. »Ich bin nur ein Küchenjunge … nichts weiter. Deine Worte ergeben keinen Sinn für mich.«

»Aha!« Schnell wie eine Schlange fuhr Binabik herum und klopfte Simon mit dem Stock auf den Knöchel. »Genau das ist ein Beispiel! Aha!« Der Troll schüttelte die kleine Faust. Qantaqa, im Glauben, er rufe sie, kam herbeigaloppiert und hüpfte im Kreis um die beiden herum, bis sie stehenbleiben mußten, um nicht über den fröhlich springenden Wolf zu fallen.

»Hinik, Qantaqa!« zischte Binabik. Sie trollte sich schwanzwedelnd, ganz wie ein zahmer Burghund. »Nun, Freund Simon«, sagte der Troll, »bitte vergib mir, daß ich so gequiekt habe, aber du hast meine Ansicht bestätigt.« Er hob die Hand, um Simons Fragen Einhalt zu gebieten. Der Junge fühlte, wie der Anblick des kleinen, ernsthaften Trolls ein Lächeln auf seine Lippen zauberte. »Erstens«, fuhr Binabik fort, »werden Küchenjungen nicht in Fischeiern gelaicht oder aus Hühnereiern ausgebrütet. Sie können denken wie die weisesten Weisen, solange sie sich gegen das Eindringen von Wissen nicht wehren; solange sie nicht sagen ›ich kann nicht‹ oder ›ich will nicht‹. Nun, und dazu wollte ich jetzt ein paar Erklärungen abgeben – sofern es dir recht ist?«

Simon fühlte sich erheitert. Nicht einmal der Schlag auf den Knöchel machte ihm etwas aus – es hatte ohnehin kaum wehgetan. »Bitte, erklär es mir.«

»Dann wollen wir das Wissen ansehen wie einen Fluß voller Wasser. Wenn du nun ein Stück Stoff bist, wie findest du mehr über dieses Wasser heraus – indem dich jemand mit einer Ecke hineintaucht und dann wieder herauszieht, oder indem du dich ohne Widerstand hineinwerfen läßt, so daß das Wasser ganz durch dich hindurch und um dich herum fließt und du durch und durch naß wirst? Also?«

Der Gedanke, in einen kalten Fluß geworfen zu werden, ließ Simon ein wenig erschauern. Das Sonnenlicht stand schon ein wenig schräger, der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. »Ich nehme an … ich nehme an, wenn man triefend naß ist, lernt man mehr vom Wasser.«

»Mit Genauigkeit!« Binabik war erfreut. »Mit Genauigkeit! Nun siehst du, worauf es in meinem Unterricht ankommt.« Der Troll setzte sich wieder in Marsch.

In Wahrheit hatte Simon seine ursprüngliche Frage inzwischen vergessen, aber das störte ihn wenig. Es war etwas ungemein Bezauberndes an diesem kleinen Mann, eine Ernsthaftigkeit unter der Fröhlichkeit. Simon fühlte sich in zwar kleinen, aber guten Händen.

Es war schwer zu übersehen, daß sie sich jetzt in westlicher Richtung bewegten. Während sie so dahinstapften, fielen ihnen die schrägen Sonnenstrahlen fast genau in die Augen. Manchmal fand ein blendender Blitz den Weg durch eine Lücke in den Bäumen, so daß Simon eine Sekunde stolperte, weil die Waldluft plötzlich von glitzernden Nadelstichen aus Licht wimmelte. Er fragte Binabik, weshalb sie nach Westen abgebogen waren.