Als Simon erwachte, präsentierte ihm der Troll ein recht zufriedenstellendes Mahl aus gebratenen Eiern – Wachtel, erklärte er –, ein paar Beeren und sogar den blaß-orangeroten Knospen eines blühenden Baumes, die sich als durchaus eßbar und auf ganz eigenartige Weise süß und gut zu kauen erwiesen. Auch das Gehen fiel ihm an diesem Morgen erheblich leichter als am Vortag, denn das Land wurde nach und nach offener, und die Abstände zwischen den Bäumen vergrößerten sich.
Der Troll war den ganzen Morgen recht wortkarg gewesen. Simon war überzeugt, daß dies an seinem mangelnden Interesse an Binabiks Waldläuferkünsten lag. Als sie einen langen, sanften Abhang hinunterstiegen, über ihnen, hoch auf ihrer Morgenbahn himmelaufwärts, die Sonne, hatte er den Eindruck, etwas sagen zu müssen.
»Binabik, möchtest du mir heute etwas über das Buch des Waldes erzählen?«
Sein Gefährte lächelte, aber es war ein schmaleres, sparsameres Lächeln, als Simon an ihm gewöhnt war. »Natürlich, Freund Simon, aber ich fürchte, ich habe dir einen falschen Gedanken eingeflößt. Weißt du, wenn ich von dem Land als von einem Buch spreche, will ich damit nicht sagen, daß du es lesen sollst, um dein geistliches Wohlbefinden zu fördern, wie einen frommen Folianten – obwohl man sicher auch aus diesem Grund auf seine Umgebung achten kann. Nein, ich spreche eher davon wie von einem Buch der Heilkunde, von etwas, das man der Gesundheit wegen studiert.«
Es ist wirklich verblüffend, dachte Simon, wie leicht es ihm fällt, mich durcheinanderzubringen. Und dies, ohne daß er es überhaupt versucht!
Laut antwortete er: »Gesundheit? Buch der Heilkunde?«
Binabiks Gesicht wurde unvermittelt ernst. »Es geht um dein Leben und Sterben, Simon. Du bist jetzt nicht mehr in deiner Heimat. Du bist auch nicht in meiner Heimat, obwohl ich es als Gast hier zweifellos leichter habe als du. Selbst die Sithi, so viele Zeitalter sie auch der Sonne zugesehen haben, wie sie durch die Himmel rollte, Jahr um Jahr, sogar sie erheben auf Aldheorte keinen Anspruch.« Binabik hielt inne, legte die Finger auf Simons Handgelenk und drückte es. »Dieser Ort, an dem wir stehen, dieser riesige Wald, ist der älteste aller Orte. Darum nennt man ihn mit den Worten deines Volkes ›Aldheorte‹: Er bleibt für immer das alte Herz von Osten Ard. Selbst diese jüngeren Bäume hier«, er stocherte mit dem Stab nach allen Seiten, »hielten bereits Überschwemmungen, Wind und Feuer stand, bevor euer großer König Johan auf der Insel Warinsten als Säugling seinen ersten Atemzug tat.«
Simon schaute sich um und blinzelte.
»Andere«, fuhr Binabik fort, »andere Bäume gibt es, von denen ich einige gesehen habe, deren Wurzeln bis in den Fels der Zeit selbst hinunterreichen; älter sind sie als alle Königreiche von Menschen und Sithi, die glanzvoll emporstiegen und wieder in bröckelnde Vergessenheit zurücksanken.«
Erneut preßte Binabik sein Handgelenk, und Simon, der den Abhang hinunter in die gewaltige Senke voller Bäume sah, fühlte sich plötzlich klein, unendlich winzig wie ein Insekt, das die Steilwand eines wolkendurchbohrenden Berges hinaufkrabbelt.
»Warum … warum erzählst du mir das alles?« fragte er endlich, holte tief Luft und kämpfte gegen etwas, das sich anfühlte wie Tränen.
»Weil«, erwiderte Binabik, griff nach oben und klopfte ihn auf den Arm, »weil du nicht denken sollst, der Wald, die weite Welt, hätten auch nur das geringste mit den Gassen und Winkeln von Erchester gemein. Du mußt auf der Hut sein, und du mußt nachdenken … immer nachdenken.«
Gleich darauf war der Troll weitergegangen. Simon stolperte hinterdrein. Wie war das alles nur gekommen? Jetzt erschienen ihm die Scharen der Bäume wie eine feindselige, flüsternde Menge. Ihm war zumute, als hätte man ihn geohrfeigt.
»Warte!« rief er. »Worüber soll ich nachdenken?« Aber Binabik ging nicht langsamer und drehte sich nicht um.
»Komm jetzt!« rief er statt dessen über die Schulter. Seine Stimme war gelassen, aber kurzangebunden. »Wir müssen uns beeilen. Wenn wir Glück haben, erreichen wir den Knoch, bevor es dunkel wird.« Er pfiff Qantaqa. »Bitte, Simon«, setzte er hinzu.
Und das waren an diesem Morgen seine letzten Worte.
»Dort!« Endlich brach Binabik sein Schweigen. Die beiden standen auf einem Bergkamm, die Baumwipfel unter ihnen eine unebene grüne Decke. »Der Knoch.«
Unter ihnen lagen treppenartig zwei weitere Baumreihen. Dahinter erstreckte sich ein abfallendes Grasmeer bis hinüber zu den Bergen, die sich klar in der Nachmittagssonne abzeichneten. »Das ist der Weidhelm, oder wenigstens sein Vorgebirge.« Der Troll deutete mit seinem Stab. Die im Schatten liegenden, scharf umrissenen Hügel, rundlich wie die Rücken schlafender Tiere, schienen über die grüne Weite nur einen Steinwurf entfernt.
»Wie weit sind sie weg … die Berge?« fragte Simon. »Und wie sind wir so weit nach oben gekommen? Ich erinnere mich gar nicht ans Klettern.«
»Geklettert sind wir auch nicht, Simon. Der Knoch ist eine Mulde, tief eingesunken, als hätte ihn jemand nach unten gedrückt. Wenn du zurückschauen könntest«, er machte eine Handbewegung nach dem Kamm hinauf, »würdest du erkennen, daß unser jetziger Standort ein wenig tiefer liegt als die Ebene von Erchester. Und um auch deine zweite Frage nicht ohne Antwort zu lassen: Die Berge sind durchaus noch ein Stück entfernt, aber deine Augen täuschen dich und lassen sie dir nah scheinen. Wahrhaftig, wir sollten uns jetzt lieber an den Abstieg machen, wenn wir meinen Rastplatz noch mit der Sonne über uns erreichen wollen.«
Der Troll wanderte ein paar Schritte den Kamm entlang. »Simon«, begann er, und als er sich umdrehte, konnte der Junge sehen, daß Kinn und Mund etwas von ihrer Verbissenheit verloren hatten, »ich muß dir sagen, daß diese Weldhelm-Berge zwar nur Säuglinge sind, wenn man sie mit meinem Mintahoq vergleicht – aber dennoch, nur allein in der Nähe solcher Höhen zu sein, berauscht mich … wie Wein.«
Plötzlich ist er wieder wie ein Kind, dachte Simon und sah Binabiks kurzen Beinchen nach, die ihn geschwind durch die Bäume und den Hang hinuntertrugen. Nein, dachte er dann, nicht wie ein Kind, das ist nur seine Größe, aber jung, sehr jung. – Wie alt ist er eigentlich?
Tatsächlich wurde der Troll, während Simon ihm hinterher sah, immer kleiner und kleiner. Der Junge fluchte milde vor sich hin und rannte ihm nach.
Sie stiegen erstaunlich schnell die breiten, dicht bewaldeten Kämme hinunter, auch wenn es Stellen gab, an denen sie wirklich klettern mußten. Simon war von der Geschicklichkeit, die Binabik an den Tag legen konnte, keineswegs überrascht – der Troll sprang so leicht wie eine Feder, wirbelte weniger Staub auf als ein Eichhörnchen und zeigte sich so sicher auf den Füßen, daß, davon war Simon überzeugt, selbst die Widder der Qanuc sich dessen nicht geschämt hätten. Aber wenn auch Binabiks Behendigkeit ihn nicht wunderte, so doch seine eigene. Anscheinend hatte er sich etwas erholt, und ein paar ordentliche Mahlzeiten hatten ihren Teil dazu beigetragen, den Simon wiederherzustellen, den man auf dem Hochhorst einst den »Geisterknaben« genannt hatte – den furchtlosen Turmbesteiger und Mauerspringer.