Die Wolfs hatten weder genug Platz noch genug Zeit, ihre Schwerter zu ziehen, und mit den Disruptoren hätten sie sich wahrscheinlich nur gegenseitig erschossen. Sie wehrten sich verzweifelt, aber sie waren überrascht worden, und Finlay war der Maskierte Gladiator.
Sie hatten nicht den Hauch einer Chance.
Finlay stach den letzten Überlebenden mit kalter Berechnung nieder, trat den Körper von der Pritsche herunter und steckte sein Schwert weg. Die Schlitten der anderen Wolfs schossen vor. Die Soldaten schrien vor Wut und Ärger. Disruptorstrahlen schossen rechts und links an Finlay vorbei. Er zog den Plastiksprengstoff aus dem Gürtel, knallte ihn auf den Boden der Ladefläche, damit er haftenblieb, und aktivierte den eingebauten Näherungszünder. Dann sprang er zurück, drehte den präparierten Schlitten und steuerte ihn den heranstürmenden Gegnern entgegen. Er schätzte sorgfältig den richtigen Zeitpunkt, bevor er absprang. Finlay prallte hart auf den Boden und rollte sich hinter einem massiven Schreibtisch in Deckung. Der Schlitten krachte mitten in die Fahrzeuge der Wolfs und explodierte in einem Feuerball, der die anderen Schlitten verschlang. Minutenlang erschütterten Folgeexplosionen das Gebäude, als die Antriebe hochgingen, und ein gefährlicher Regen aus Schrapnell fetzte durch den Gang, durchsetzt mit weichen, blutigen Fetzen, die einmal die feindlichen Wolfs gewesen waren. Ein letzter Feuerball flammte auf, der rasch wieder in sich zusammenfiel und erstarb.
Finlay hatte sich hinter dem Schreibtisch ganz flach auf den Boden gelegt und die Hände fest auf die Ohren gepreßt, um sie gegen den überwältigenden Krach der Explosionen zu schützen. Als er bemerkte, daß plötzlich alles still geworden war, nahm er zögernd die Hände herunter und erhob sich eben weit genug, um über den Schreibtisch hinweg nach vorn zu spähen. Überall im Korridor waren kleinere Feuer ausgebrochen. Tote und Verwundete lagen herum, und einige von ihnen brannten. Finlay beachtete sie kaum. Er kannte sie nicht.
Jetzt zählte nur Adrienne, und sonst nichts. Er erblickte ein rotes Licht, das über der Tür blinkte, und wunderte sich warum er bisher keine Alarmglocken gehört hatte. Nur langsam dämmerte ihm, daß auch sonst nichts zu hören war. Die Alarmglocken schrillten wahrscheinlich sehr wohl, nur hatten die Explosionen ihn vorübergehend taub werden lassen. Zumindest hoffte er, daß es nur vorübergehend war. Sein Bedarf an Problemen war bereits gedeckt.
Schmerzerfüllt kämpfte er sich auf die Beine und stolperte zu seinem eigenen Schlitten, der noch immer dort schwebte, wo er ihn zurückgelassen hatte. Rings um Adrienne lagen brennende Wrackteile auf der Pritsche, aber seine Frau schien keine weiteren Verletzungen erlitten zu haben. Finlay wischte die Trümmer mit dem Arm vom Schlitten und kletterte an Bord. Die Feuer im Korridor breiteten sich rasch aus, und allmählich wurde es ungemütlich warm. Seine nackte Haut schmerzte bereits von der sengenden Hitze. Die Besitzer des Turms hätten besser Geld für eine automatische Löschanlage ausgegeben. Der Gedanke amüsierte Finlay, und er kicherte unwillkürlich. Dann riß er sich zusammen. Er blickte auf Adrienne hinunter. Das Deck, wo es nicht gebrannt hatte, war schlüpfrig von ihrem Blut, und Adriennes Hände glänzten naß und purpurn, wo sie ihre Eingeweide zusammenhielten. Ihr Gesicht war im krassen Gegensatz dazu leichenblaß. Wenigstens atmete sie noch, zwar flach, aber spürbar. Finlay setzte den Schlitten in Bewegung. Mit höchster Beschleunigung schoß er durch das zerfetzte Fenster hinaus und nahm Kurs auf den Turm der Shrecks.
Evangeline machte sich fertig, um zu Bett zu gehen, obwohl es eigentlich noch früh war. Papa hatte sich zu einem seiner kleinen ›Besuche‹ angemeldet. Es war erst wenige Minuten her. Er meldete sich immer sehr kurzfristig an, damit sie sich keine Entschuldigungen ausdenken konnte. Andererseits genoß er es, wenn sie ein wenig auf seinen Besuch warten mußte. Dann konnte sie über das nachdenken, was auf sie zukam.
Und so saß sie in ihrem langen weißen Nachthemd vor ihrer Schminkkommode, bürstete lustlos das Haar und dachte
darüber nach, sich das Leben zu nehmen. Sie wußte, daß sie es nicht tun würde. Wenn man von Papa einmal absah, gab es eine ganze Menge, für das sich zu leben lohnte, und außerdem würde es Finlay sehr weh tun. Ihre depressive Stimmung würde wieder vergehen, wie schon so oft – doch im Augenblick brachte ihr der Gedanke Trost, alles hinter sich zu lassen und keine Sorgen mehr haben zu müssen. Keine Sorgen, daß man sie als Klon enttarnen könnte. Keine Sorgen, daß man ihre Verbindungen zum Untergrund entdeckte. Keine Angst, Finlay in der Arena sterben zu sehen. Nie wieder unter Papas kleinen ›Besuchen‹ leiden müssen. Es wäre so schön, so schön…
Evangeline stieß einen tiefen Seufzer aus, legte ihre Bürste auf die Kommode vor sich und betrachtete sie für ein paar Sekunden, als sei sie ein völlig fremder Gegenstand, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Wie konnte sie einfach hier sitzen und ihre Haare bürsten, eine derart banale, alltägliche Handlung, während ihr Leben doch ein solcher Alptraum war? Von Finlay abgesehen natürlich. Seine Liebe war alles, was sie noch aufrecht hielt. Selbst ihre Leidenschaft für den Kampf der Untergrundbewegung erlosch hin und wieder. Finlay gab ihr die Kraft, immer wieder weiterzumachen, selbst in Anbetracht von Papa und seiner klebrig-kalten Hände.
Der Shreck kam nicht in jeder Nacht. Manchmal konnte eine ganze Woche vergehen, ohne daß er ihr die Ehre seines Besuchs gewährte. Gregor Shreck grinsend, schwitzend, neben ihr im Bett selbstgefällige Reden haltend, wie er sie mit dem Namen ihrer Mutter anredete. Sie hatte Finlay nie davon erzählt, nie auch nur eine Andeutung gemacht. Bestenfalls hätte er Papa zu einem Duell herausgefordert und ihn getötet, und dann wäre Finlays geheime Identität als der Maskierte Gladiator ans Licht gekommen – zusammen mit der Tatsache, daß sie ein Klon war. Und schlimmstenfalls würde er sie nicht mehr mit den gleichen Augen sehen wie zuvor, wenn er erst wußte, wer sonst noch ihr Bett teilte.
Es lag in Gregor Shrecks bestem Interesse, das alles geheimzuhalten. Für das Klonen seiner toten Tochter drohte ihm eine schwere Strafe, aber Inzest? Der gesamte Adel würde sich von ihm abwenden. Die Gentechnologie hatte die Gefahren der Inzucht beseitigt, aber sie bildete trotzdem noch immer ein Tabu, und wenn nur aus dem Grund, daß selbst die Aristokratie ein paar Regeln benötigte, die sie nicht ungestraft brechen durfte. Inzest war ein geschmackloses Verbrechen.
Wenn die Gesellschaft das mit ihr und Papa herausfand, würde niemand ihn zur Rechenschaft ziehen, aber es würde auch keiner mehr mit ihm sprechen. Sie würden ihn schneiden, sogar im Clan und in der Familie, und das war für einen Aristokraten eine schlimmere Strafe als der Tod.
Sicher, wenn sie herausfanden, daß er seine Frau und seine Tochter ermordet hatte… Evangeline seufzte müde. So viele Geheimnisse in einer einzigen Familie. Unvermittelt aktivierte sich ihr Komm-lmplantat, und sie versteifte sich vor dem Spiegel der Kommode. Sie hatte alle öffentlich zugänglichen Kanäle abgeschaltet, und außer ihrem Vater kannte nur ein Mann ihren privaten Kode.
»Evangeline, hier ist Finlay. Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten. Kann ich zu dir kommen?«
»Natürlich.« Sie dachte nicht eine Sekunde daran, seine Bitte abzuschlagen. »Wo steckst du?«
»Direkt vor deinem Fenster. Machst du mir auf? Es ist verdammt kalt hier draußen.«