Sie sprang auf und rannte zu ihrem Fenster. Die Vorhänge zogen sich auf einen Wink hin zurück und enthüllten einen blutbesudelten Finlay auf einem Gravschlitten, der auf der anderen Seite des Panzerglases schwebte. Trotz der Überraschung seines unerwarteten Auftauchens und des Schrecks, den der Anblick seiner blutverschmierte Gestalt ihr einjagte, war ihr erster Gedanke, wie er es geschafft hatte, an den Sicherheitsleuten des Turms vorbeizukommen. Er hatte wahrscheinlich eine ganze Menge Alarme ausgelöst, indem er einfach nur da war, wo er nicht sein sollte. Bei aller Liebe zu Finlay – sie war schließlich immer noch eine Shreck.
Evangeline verdrängte den Gedanken und betätigte den Notschalter im Rahmen des gepanzerten Fensters. Die schwere Scheibe glitt zur Seite, und Finlay steuerte den Gravschlitten in ihr Zimmer. Das Gefährt nahm eine Menge Platz in Anspruch, und obwohl es noch immer ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte und leicht zur Seite zu schieben war, mußte Evangeline sich dünn machen, um sich an ihm vorbei zum Fenster zu quetschen und es wieder zu schließen.
»Mach dir keine Sorgen wegen der Wachen«, sagte Finlay, als er vom Schlitten sprang. »Ich besitze ein kleines Gerät, das sich um derartige Dinge kümmert. Es hilft mir, meine Geheimnisse zu wahren. Die Wachen werden nie erfahren, daß ich überhaupt hier war.«
Evangeline zappelte ungeduldig. Ein Dutzend Fragen lagen ihr auf der Zunge, die ihr jedoch im Hals stecken blieben, als sie sah, wie Blut vom Schlitten auf ihre dicken Teppiche tropfte. Im ersten Augenblick dachte sie, daß er schlimmer verletzt war, als es ausgesehen hatte, aber dann fiel ihr Blick auf die zusammengekrümmte Gestalt, die in einer Ecke der Ladepritsche lag. Ihr Herz drohte auszusetzen, als sie erkannte, wer das war. Adrienne Feldglöck. Die Frau, die sie wahrscheinlich mehr haßte als jeden anderen Menschen auf der Welt, mit Ausnahme von Papa. Und Finlay brachte sie ausgerechnet zu ihr!
Finlay hob seine Frau unter angestrengtem Stöhnen auf die Arme, und das zeigte Evangeline mehr als alles andere, wie erschöpft und ausgebrannt er war. Er trug Adrienne zu Evangelines Bett und legte sie vorsichtig hinein. Dann setzte er sich neben sie. Der letzte Rest an Kraft schien ihn verlassen zu haben. Sein Kinn sank auf die Brust, und die Schultern hingen schlaff herab. Irgendwie ertappte sich Evangeline bei dem Gedanken, wie sie nur all das Blut je wieder aus ihren Teppichen und dem Bettzeug entfernen sollte, ohne ein Dutzend neuer Dienerinnen einzustellen. Aber dann riß sie sich zusammen und konzentrierte sich auf das, was im Augenblick wichtig war. Finlay brauchte ihre Hilfe. Sie eilte zum Barschrank, goß einen großen Cognac aus und brachte ihn zu ihrem Geliebten. Sie mußte das Glas in seine Hand drücken und ihn beinahe zum Trinken nötigen. Der Alkohol brachte wieder Farbe in sein Gesicht, und sein Blick wurde klarer. Evangeline kniete sich vor ihm auf den blutverschmierten Teppich.
»Was ist geschehen, Finlay? Warst du das?«
»Nein! Nein, das waren die Wolfs. Sie stirbt, Evangeline! Ich muß sie retten. Ich brauche die Regenerationsmaschine.«
»Ja, natürlich. Aber…«
»Ich weiß, was du denkst. Aber ich kann sie nicht einfach sterben lassen. Bitte, Evie.«
»Also gut. Ich tue es. Dir zuliebe.«
Evangeline erhob sich, ging zu der Spiegelkommode und schob sie zur Seite. Dann aktivierte sie die versteckten Kontrollen per Hand, indem sie sorgfältig einen geheimen Kode eingab. Ein Teil der Zimmerwand glitt zur Seite, und Finlays Regenerationsmaschine rollte aus der freigegebenen Nische.
Gregor war nicht der einzige Shreck, der Geheimnisse besaß.
Evangeline öffnete den langgestreckten, schmalen Apparat, der für ihren Geschmack zu sehr an einen Sarg erinnerte, und schob ihn hinüber zum Bett, wo Finlay bei seiner Frau saß. Er hob Adrienne sehr vorsichtig hoch und ließ sie in die Maschine gleiten, wobei er sich erneut über und über mit frischem Blut beschmierte. Der Verschluß senkte sich wie ein Sargdeckel auf Adrienne herab, und das war alles. Ihr Schicksal lag nun in den Händen der Maschine, und Finlay konnte nur noch abwarten und hoffen. Er zog einen Stuhl heran und fiel darauf wie eine Marionette, der man alle Fäden durchgeschnitten hat.
Evangeline stand bei ihm, hoch aufgerichtet, den Mund zu einem Strich zusammengepreßt. Sie mußte nichts sagen.
Finlay atmete tief durch. »Adrienne und ich sind die letzten Überlebenden der ersten Familie des Feldglöck-Clans. Alle anderen sind tot. Die Wolfs haben uns überfallen. Sie haben uns die Vendetta erklärt und uns in unserem eigenen Turm niedergemetzelt. Sie sind auch hinter mir her, aber ich konnte sie abschütteln. Ich hätte nicht herkommen dürfen, doch ich wußte nicht, wo ich sonst hingehen sollte.«
»Natürlich durftest du herkommen«, widersprach Evangeline.
»Jetzt bist du erst mal in Sicherheit. Niemand kann dir etwas tun, solange du bei mir bist. Ich bin so froh, daß du überhaupt fliehen konntest. O Finlay! Deine gesamte Familie?«
»Ja. Nur die Nebenzweige und entfernte Vettern und Basen sind noch übrig, und die Wolfs lauern in den Straßen und jagen auch sie. Der Feldglöck-Clan existiert nicht mehr.«
»Und Adrienne? Was ist mit ihr? Warum mußtest du sie herbringen?«
»Kid Death stach sie nieder, als sie meinen Bruder retten wollte. Eines Tages wird er dafür sterben. Ihre einzige Hoffnung besteht in der Regenerationsmaschine, die ich hier bei dir gelassen habe.«
»Aber warum? Warum mußtest du sie herbringen?« fragte Evangeline tonlos. »Warum hast du sie nicht einfach sterben lassen? Sie hat immer zwischen uns gestanden, und du sagst selbst, daß du sie nie geliebt hast. Das ist unsere Chance, Finlay! Wir müssen nichts weiter tun, als die Maschine abschalten und warten. Sieh mich nicht so an! Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es für mich gewesen ist, alleine, ohne dich. Du hast keine Ahnung.«
»Ich kann sie nicht einfach sterben lassen«, erwiderte Finlay. »Das verdient sie nicht. Sie hat so tapfer gekämpft. Und was uns beide angeht – jetzt, wo es den Feldglöck-Clan nicht mehr gibt, ist auf meinen Kopf ein Preis ausgesetzt. Wir werden uns niemals zusammen in der Gesellschaft zeigen können, meine Liebste, weil ich nicht mehr zur Gesellschaft gehöre.
Sobald ich den Kopf aus der Deckung nehme und mich in der Öffentlichkeit zeige, bin ich ein toter Mann. Robert wird der neue Feldglöck sein, und er kann nur versuchen zu retten, was zu retten ist, und so viel von der Familie zu erhalten, wie nur irgend möglich. Er kann mir nicht helfen. Er darf es einfach nicht riskieren.
Aber vielleicht kann er Adrienne retten, wenn sie überlebt.
Er ist auf dem Weg hierher und bringt Unterstützung mit.
Meine einzige Chance besteht darin, ein Gesetzloser zu werden, vogelfrei, und in den Untergrund zu gehen. Du hast immer gesagt, du würdest mir überallhin folgen, ganz egal was geschieht. Denkst du noch immer so? Willst du wirklich alles wegwerfen, all deinen Reichtum aufgeben und mit mir in den Untergrund gehen? Willst du vogelfrei werden wie ich?«
Evangeline setzte sich zu ihm und drückte ihren Geliebten so fest sie konnte. »Natürlich will ich das, Finlay. Du bist alles, was ich je wollte.«
Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und hielten sich in den Armen. Dann gab die Regenerationsmaschine eine Reihe drängender Geräusche von sich. Finlay und Evangeline erhoben sich zögernd und gingen hin, um die Anzeigen zu kontrollieren. Finlay nickte langsam, und Evangeline verbarg sorgfältig ihre wahren Gefühle.
»Sie ist schlimm dran, trotzdem hat die Maschine sie stabilisiert«, sagte Finlay schließlich. »Es wird eine Zeitlang dauern, bis die Maschine mit ihrer Arbeit fertig ist, aber wir können nicht so lange warten.«
»Du sagst, daß Robert herkommt?«
»Mit ein paar Freunden vom Militär. Sie werden nach Adrienne sehen und sie beschützen.«
»Die Wachen werden ihn nicht hineinlassen. Papa leidet seit der… Geschichte mit Letitia noch mehr an Paranoia als gewöhnlich, und seine Leute haben strikte Anweisung, jeden zu erschießen, der mich besuchen will und nicht zur Familie gehört. Du hast doch so ein Gerät…«