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»Was denkst du?« fragte sie leise.

»Meine Familie«, erwiderte er ohne aufzublicken. »Sie sind alle tot. Ich vermisse sie. Mein Vater starb, und ich hatte nie eine Gelegenheit, ihm mein wahres Ich zu zeigen. Er hat nie gewußt, daß ich ein guter Kämpfer bin, genauso wie er selbst.

William und Gerold sind auch tot. Sie waren da, mein ganzes Leben, haben sich um mich gekümmert und halfen mir, wenn ich sie brauchte. Jetzt sind sie alle nicht mehr, und nur ich bin übrig. Und ich bin nicht einmal mehr ein Feldglöck. Ich weiß nicht, was ich bin.«

»Du bist der Mann, den ich liebe«, sagte Evangeline. »Der Mann, der mich liebt. Ich bin jetzt dein Leben. Oder reicht dir das nicht?«

Endlich hob er den Blick. »Ich habe immer gesagt, daß du alles bist, wonach ich mich wirklich sehne. Scheint, daß ich zuerst alles andere verlieren mußte, um herauszufinden, wie sehr das stimmt. Ich liebe dich, Evie; daran darfst du niemals zweifeln. Aber ich habe auch meine Familie geliebt, auf eine andere Weise, und ein Teil von mir ist mit ihnen gestorben.

Mein Leben ist aus dem Ruder gelaufen, und ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll.«

»Wir werden weiterleben, so oder so. Du wirst eine neue Aufgabe im Untergrund finden. Mir ging es genauso. Und jetzt laß uns von hier weggehen. Ich denke, es ist am besten, wenn wir verschwunden sind, bevor dein Vetter mit seiner kleinen Armee eintrifft.«

Finlay runzelte die Stirn. »Du meinst, wir sollen Adrienne einfach in der Maschine zurücklassen? Wird sich dein Vater denn nicht fragen, was die Maschine hier zu suchen hat?«

»Ich werde mir schon eine plausible Erklärung für ihn einfallen lassen. Laß uns jetzt endlich gehen, Finlay. Wir haben alles für deine Frau getan, was wir tun konnten.«

Finlay nickte zögernd und erhob sich. »Ja, du hast sicher recht; das sehe ich ein. Du gehst voraus, Evie, und ich folge dir.«

Evangeline lächelte. »Genau so stelle ich mir einen Mann vor.« Sie machte einen Schritt an ihrer Spiegelkommode vorbei auf die Wand zu. Ein Licht schaltete sich ein und enthüllte einen getarnten Aufzug. »Das war ursprünglich ein Fluchtweg für den Fall eines Feuers. Ein paar befreundete Kyberratten haben ihn aus den Dateien gelöscht, und nur ich weiß noch von seiner Existenz. Der Lift bringt uns ins zweite Kellergeschoß. Dort geht nie jemand hin. Deshalb hat auch nie jemand den versteckten Tunnel gefunden, der von dort in die Katakomben unter der Stadt führt. Du bist nicht der einzige mit Geheimnissen, Finlay. Der Tunnel ist ein sicherer Weg zum Untergrund, und ich habe ihn schon oft benutzt. Und jetzt komm endlich mit mir, Finlay Feldglöck. Oder möchtest du lieber bei deiner Frau bleiben?«

Finlay setzte sich in Bewegung und trat zu Evangeline. Er wollte seine Arme ausstrecken und sie drücken, aber als er die Kälte in ihren Augen und ihr starres Gesicht erblickte, hielt er in der Bewegung inne. Seine Arme fielen kraftlos an den Seiten herab. »Es tut mir leid, Evangeline. Ich weiß, was in dir vorgeht, was das für dich und uns beide bedeutet. Doch ich konnte sie einfach nicht liegen und sterben lassen. Es ist eine Frage der Familienehre, selbst wenn die Familie nicht länger existiert. Ich habe Adrienne nie geliebt, aber ich bewunderte sie. Sie hatte nie Angst, stark zu sein und zu sagen, was sie fühlte, ganz egal, wie die Konsequenzen aussehen mochten.

Auf ihre Art und Weise war sie immer ehrenhaft.«

»Und du stellst deine Familienehre über uns und unsere gemeinsame Zukunft?«

»Was ist denn mit deiner eigenen Familienehre? Wir hätten genausogut einfach verschwinden können, und Robert und seine Leute hätten sich den Weg in euren Turm freigekämpft, aber das wolltest du nicht zulassen. Du hast lieber einen Handel mit deinem verachteten Vater abgeschlossen, als zuzulassen, daß bewaffnete Männer aus einem anderen Clan auf das Haus deiner Familie losgehen. Es wäre falsch gewesen, und du wußtest das. Bitte, Liebling, laß uns nicht länger darüber streiten. Laß uns einfach gehen. Es gibt nichts mehr, das uns hier noch länger hält.«

Evangeline nickte schweigend, weil sie ihrer eigenen Stimme nicht vertraute, und betrat den Aufzug. Finlay folgte ihr, und die Türen glitten lautlos hinter ihnen zu. Evangeline hämmerte mit der Faust auf den ›Abwärts‹-Knopf, und der Lift setzte sich in Bewegung. Zum ersten Mal seit Finlays Auftauchen entspannte sie sich ein wenig. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Unterwegs kommen wir an einem Versteck vorbei, wo wir uns umziehen und ein wenig frisch machen können«, sagte sie, ohne den Blick von den geschlossenen Türen abzuwenden. »Wir sehen beide nicht gerade salonfähig aus, oder? Bist du schwerverletzt? Es gibt eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, aber das ist alles.«

»Mir fehlt nichts«, erwiderte Finlay. »Ich heile ziemlich schnell.«

Evangeline sah ihn fragend an. »Laß mich raten – ein weiteres Implantat?«

Er zuckte die Schultern. »So etwas Ähnliches. In der Arena muß man jeden noch so kleinen Vorteil ausnutzen. Die Regenerationsmaschine vollbringt wahre Wunder, aber man muß lange genug leben, um zu ihr zu kommen.«

»Die Spiegelkommode schiebt sich von alleine wieder an ihren Platz zurück, und niemand wird sich erklären können, wohin wir verschwunden sind. Papa wird überrascht sein, wenn er bemerkt, daß ich nicht auf ihn warte, aber bis dahin sollte dein Vetter Robert Adrienne schon erreicht haben.«

»Wird dein Vater sehr wütend sein?« fragte Finlay.

»O ja, sehr. Kann dein Vetter mit ein wenig Druck umgehen?«

»Sicher. Robert ist ein ganzes Stück härter geworden als damals, der arme Kerl. Was wird dein Vater sagen, wenn du wieder zurück bist?«

»Ich weiß noch nicht, ob ich zurückgehe. Du wirst meine Hilfe benötigen bei deinem neuen Leben im Untergrund. Und der liebe Papa kann sich meinetwegen zur Hölle scheren. Ich hätte mein Bündel schon lange gepackt und mich ganz in den Untergrund geflüchtet, wenn du nicht gewesen wärst. Und wenn ich nicht eine so nützliche Kontaktperson für den Untergrund gewesen wäre. Aber ich schätze, dieser Teil meines Lebens ist vorbei. Was von jetzt an auch geschehen mag, wir werden Zusammensein, du und ich. Und das ist alles, was wirklich zählt.«

Evangeline blickte noch immer unverwandt auf die Tür, aber ihre Hand war an der richtigen Stelle, als er die seine ausstreckte.

Die beiden Liebenden standen beieinander und fühlten sich durch die Gegenwart des anderen sicher und geborgen, während der Lift immer weiter in die Tiefe sank. Schließlich glitt die Tür wieder zur Seite und gab den Blick auf das Tiefgeschoß frei, einen leeren, kahlen Betonraum, der mit Abfällen und Müll übersät war. Evangeline rührte Finlay zu einer weiteren verborgenen Tür, und sie marschierten durch enge, niedrige Gänge und Tunnel in die Unterstadt, in die miteinander in Verbindung stehenden unterirdischen Systeme, in denen der Untergrund zu Hause war. Normalerweise verspürte Evangeline auf dem Weg nach unten ein Gefühl von Freiheit und Freude, weil sie ihre Rolle als brave Tochter mitsamt all ihren offiziellen Verpflichtungen hinter sich ließ, doch diesmal war es anders. Trotz all ihrer mutigen Worte wußte sie, daß sie mindestens noch ein einziges Mal in den Shreck-Turm würde zurückkehren müssen, um das Versprechen ihrem Vater gegenüber einzuhalten. Wenn sie das nicht tat, wenn sie sich statt dessen einfach bis ans Ende aller Tage unter der Stadt verbarg, wie sie es am liebsten getan hätte, dann würde er sich schrecklich an Adrienne und dem jungen Robert Feldglöck rächen und an all den schwächeren Feldglöcks, die er finden konnte. Sie hatte seine rasende Wut bereits erlebt. Niemand durchkreuzte je die Pläne des Shreck und kam ungeschoren davon. Und so schlimm war der Preis auch wieder nicht, den sie zu zahlen hatte. Schließlich hatte sie ihn schon oft genug gezahlt. Beim ersten Mal hatte sie noch gedacht, sich umbringen zu müssen, aber sie hatte es dann doch nicht getan. Sie war nicht stark genug gewesen. Finlay durfte es nie erfahren.