Zu seinem eigenen Besten.
Und wer wußte schon, was die Zukunft bringen würde?
Vielleicht würde sie eines Tages einen neuen Anfang machen können, zusammen mit Finlay, und sicher vor den kalten, feuchten Händen ihres Vaters. Evangeline lächelte verträumt.
Sie hatte jetzt soviel, dessentwillen sich das Leben lohnte.
Finlay, die Untergrundbewegung und vielleicht sogar die Gelegenheit zur Rache, irgendwann in ferner Zukunft…
Finlay betrachtete den Versammlungsort mit wachem Interesse. Eine verlassene Werkstatt, wie es den Anschein hatte, die mit halb zerlegten, überflüssigen Ersatzteilen vollgestopft war. Kabel baumelten von der hohen Decke herab, und verschlissene Bildschirme standen aufgereiht an den Wänden.
Sie knisterten vor Statik. Evangeline hatte ihrem Geliebten erzählt, daß sie hier die Anführer der Esper treffen würden, wo sie ihn einer Prüfung unterziehen und eine Entscheidung treffen konnten, aber Finlay erblickte nicht die kleinste Spur von ihnen, was er nur allzugut verstand. Der Ort war ein einziger Müllhaufen, und alles starrte vor Dreck. In ihm regte sich der starke Verdacht, er könnte sich allein durch seine bloße Anwesenheit bereits eine ansteckende Krankheit einfangen. Wenn das hier typisch war für die unterirdischen Anlagen, dann würde er sich zweimal überlegen, ob er blieb.
Alles hatte seine Grenzen.
Unvermittelt erschienen aus dem Nichts die Anführer der Esper in der Halle, und für einen Augenblick drohte Finlay die Fassung zu verlieren. Er starrte offenen Mundes und mit weitaufgerissenen Augen auf die Gestalten vor sich. Dann wurde ihm sein Benehmen bewußt, und er riß sich zusammen.
Finlay wußte, daß der erste Eindruck entscheidend war, und erinnerte sich an einen der Leitsätze der Aristokraten: Bewahre unter allen Umständen deine Würde. Er hoffte, daß niemand seinen Lapsus bemerkt hatte.
»Keine Angst«, flüsterte Evangeline neben ihm. »So geht es jedem, wenn er die Anführer zum ersten Mal zu Gesicht bekommt.«
Finlay konnte das gut verstehen. Ein Wasserfall schien gurgelnd und rauschend aus dem Nichts zu kommen und verschwand kurz über dem Torbogen genauso wieder. Dann erschien ein abstraktes Muster, das sich unendlich in sich selbst wiederholte, und ein gewaltiges Schwein, das größte, das Finlay je gesehen hatte, mit kleinen tückischen Augen und Blut an den Hauern. Und schließlich eine mehr als drei Meter
große Frau in einem Umhang aus schimmerndem Licht. Sie alle musterten ihn mit kaltem Desinteresse. Evangeline hatte Finlay gewarnt, daß die Anführer ihre wahre Identität aus Sicherheitsgründen hinter Illusionen verbargen, aber er hatte nicht erwartet, daß diese Illusionen so… so real sein könnten. Finlay schluckte mühsam und hielt den Kopf hoch erhoben.
»Interessante Freunde, die du da hast, Evie«, sagte er leichthin. »Normalerweise muß ich Valentin um ein paar seiner bunten Pillen bitten, wenn ich so etwas sehen will…«
»Halt den Mund, Finlay Feldglöck«, unterbrach Evangeline ihren Geliebten genauso energisch wie leise. »Du bist hier nur geduldet, vergiß das nicht. Der Untergrund hat nichts übrig für die Familien. Zu viele gute Männer und Frauen wurden in ihrem Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit von den Mächtigen getötet, und die Tatsache, daß ich bei dir bin, ist der einzige Grund, warum man dich nicht augenblicklich erschossen hat. Und sie haben nicht immer soviel Geduld mit mir. Also sei jetzt endlich still und laß mich versuchen, ein gutes Wort für uns beide einzulegen, ja?«
»Ich bin jetzt ein Gesetzloser«, erwiderte Finlay. »Und das bedeutet, daß sie mich aufnehmen müssen, oder etwa nicht?«
»Keineswegs«, meldete sich das riesige Schwein zu Wort.
»Nein, das bedeutet es nicht.« Seine Stimme war ein rumpelndes Dröhnen, das Finlay bis ins Mark drang. »Es gibt immer wieder Spione und Verräter, die versuchen, uns von innen her zu zersetzen.«
»Und was geschieht mit ihnen, wenn sie entdeckt werden?«
»Ich fresse sie auf«, erwiderte das Schwein.
Finlay beschloß, Evangeline die weitere Unterhaltung zu überlassen. Er setzte ein respektvolles Gesicht auf, während sie mit den Anführern sprach, und er achtete sorgfältig darauf, daß seine Hände nicht in die Nähe von Schwert oder Pistole kamen. Finlay musterte die normal aussehenden Leute auf der gegenüberliegenden Seite der großen ehemaligen Werkstatt, dann setzte er sich in Bewegung und gesellte sich zu ihnen.
Er verbeugte sich höflich und stellte sich vor: »Ich bin Finlay Feldglöck, oder genauer gesagt, ich war es. Ich vermute, ich bin nicht mehr berechtigt, diesen Namen zu führen. Seid Ihr auch Mitglieder der Untergrundbewegung?«
»Mein Name ist Huth«, antwortete ein großer Mann ohne Gesicht. »Ich bin Berater.«
Er war mit einem langen Umhang bekleidet und hatte eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Wahrscheinlich ein weiterer Esper, dachte Finlay. Er wandte seine Aufmerksamkeit den drei Frauen zu, die offensichtlich Drillinge waren, und schenkte ihnen sein charmantestes Lächeln.
»Verschwendet es nicht an uns«, sagte die linke von ihnen.
»Wir sind verheiratet.«
»Wirklich?« fragte Finlay. »Und mit wem?«
»Mit uns«, erwiderte die Frau in der Mitte. »Wir sind die Stevie Blues. Nennt uns Eins, Zwei und Drei, aber verwechselt uns nicht! Wir reagieren sehr jähzornig, wenn uns jemand verwechselt. Und wir sind wirklich sehr verschieden.«
»Jawohl, das sind wir«, stimmte die Frau zu, die ganz rechts stand. »Aber eines haben wir alle gemeinsam: Wir mögen keine Aristos.«
»So geht es heutzutage den meisten«, entgegnete Finlay.
»Vielleicht kann ich Euch davon überzeugen, daß wir nicht alle schlecht sind.«
»Das wagen wir zu bezweifeln«, sagten die drei Stevie Blues einstimmig. »Und wenn Ihr jetzt noch behauptet, daß einige Eurer besten Freunde Klone sind, muß ich kotzen«, fügte Stevie Eins hinzu.
Finlay beschloß, die Unterhaltung vorzeitig zu beenden und gesellte sich wieder zu Evangeline, die anscheinend am Ende ihres Plädoyers angekommen war. Klone. Wie Evangeline. Er wußte nicht recht, was er davon halten sollte. Er hoffte noch immer, daß er genug Zeit zum Nachdenken fand, aber die Dinge entwickelten sich für seinen Geschmack viel zu rasch.
Als er am Morgen als ältester Sohn und Erbe einer der mächtigsten Familien des Imperiums aufgestanden war, hätte er nicht im Traum daran gedacht, daß er am Abend hier unten enden könnte, von allen gejagt und vollkommen hilflos, während ein Klon mit ein paar Espern um sein Leben diskutierte.
Finlay hatte nie viel über Klone und Esper nachgedacht. Sie waren Gebrauchsgegenstände wie andere Dinge auch die seiner Familie gehörten. Und jetzt stand er hier und liebte einen Klon. Was auch immer sich an diesem Tag geändert hatte – seine Gefühle für Evangeline waren die gleichen geblieben.
Er hatte seine Familie verloren, zusammen mit seinem Platz in der Gesellschaft, und die Imperatorin, der sein ganzes Leben lang zu dienen er geschworen hatte, gehörte jetzt zu seinen unversöhnlichen Feinden. Aber seine Evangeline war ihm geblieben. Und am Ende war das wahrscheinlich auch alles, was zählte. Seine Geliebte sprach noch immer lebhaft für ihn und stritt mit den Anführern, und weil sonst niemand in der ehemaligen Werkstatt herumstand, mit dem er ein Gespräch hätte beginnen können, schlenderte er zögernd wieder zu Huth und den drei Stevie Blues. Ob es ihm nun gefiel oder nicht –
Leute wie sie würden seine zukünftigen Begleiter sein, also lernte er besser möglichst rasch, mit ihnen auszukommen.
Er war jetzt ein Gesetzloser, genau wie Owen Todtsteltzer.
Finlay wünschte, er hätte sich mehr Gedanken um Owen gemacht, als man den Todtsteltzer für vogelfrei erklärt hatte.