Jetzt erst verstand er, was in jemandem vorging, der verstoßen wurde. Er verdrängte den Gedanken an Owen und seine eigene Zukunft und nickte dem Mann ohne Gesicht zu. In seiner Zeit bei Hofe hatte Finlay mit allen Arten von Wahnsinnigen und Exzentrikern Konversation betrieben. Ein paar Klone und ein Esper sollten ihm da keine Schwierigkeiten bereiten. Und wenn mit seiner Aufnahme in den Untergrund etwas danebengehen sollte, konnte er immer noch Evangeline packen und sich den Weg nach draußen freikämpfen. Finlay war schließlich der Maskierte Gladiator, und er hatte schon stärkeren Gegnern getrotzt als diesen hier. Oder? Genaugenommen wahrscheinlich nicht, dachte er, aber er war fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.
»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich so bei Euch hereingeplatzt bin«, wandte er sich an Huth, »doch das Leben an der Oberfläche drohte ein wenig zu ungemütlich zu werden.
Überall Disruptorfeuer und Meuchelmörder auf unseren Fersen. Aber Ihr wißt sicher selbst, wie das ist.«
»Ja«, erwiderte Huth. »Wir wissen, wie das ist. Aus diesem Grund sind wir schließlich alle hier. Aber die Tatsache, daß Ihr verfolgt werdet, gewährt Euch nicht automatisch Aufnahme in die Untergrundbewegung.«
»Richtig«, meldete sich Stevie Drei zu Wort. Finlay bewunderte ihre Kleider aus Leder und Eisen und erwischte sich bei dem Gedanken, wie Evangeline wohl darin aussehen mochte.
Er bemerkte, daß der Klon noch immer redete, und konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Stevie Drei grinste häßlich, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Soweit es uns betrifft, seid Ihr lediglich ein weiterer verdammter Aristo, der sich die Finger verbrannt hat und weinend in den Untergrund gerannt kommt, um dort Hilfe zu finden.«
»Nicht daß Ihr denkt, wir wären völlig ohne Mitgefühl«, sagte Stevie Zwei. »Ein Feind der Eisernen Hexe kann nicht ganz so schlecht sein. Aber wir gehen keine Risiken mehr ein.
Wir wurden zu oft enttäuscht.«
»Richtig«, stimmte Stevie Drei zu.
»Und wir können hier unten keine Schmarotzer gebrauchen«, sagte Stevie Eins. »Ganz gleich, wer Eure Feinde sind.
Was seid Ihr wert? Was könnt Ihr zu unserer Sache beitragen?«
Finlay errötete, und der aufsteigende Ärger ließ seine Hände instinktiv in Richtung der Waffen zucken. Zum Glück hatte er sich rechtzeitig wieder im Griff. Sie hatten ihm schließlich nur eine faire Frage gestellt, sonst nichts. Wenn sie seinen Namen bereits gehört hatten – wenn überhaupt –, kannten sie ihn nur als den berüchtigten Stutzer und Taugenichts. Die blutverschmierte Kleidung, in der er im Augenblick steckte, war nicht gerade ein Beweis für das Gegenteil. Es war schon lange her, daß Finlay sich vor jemand anderem hatte rechtfertigen müssen, und so überlegte er eine Weile, bevor er schließlich antwortete. Daß er mehrere Sprachen beherrschte und sich bei Tisch zu benehmen wußte, war sicher nicht die Antwort, die sie hören wollten.
»Ich bin ein Kämpfer«, sagte er. »Alle Waffen, alle Gegner.
Ich bin der Beste, den Ihr je gesehen habt.«
Die drei Stevie Blues warteten, und als sie erkannten, daß das alles war, was er zu diesem Thema sagen würde, grinsten sie. Huth kicherte leise. Es war kein angenehmes Geräusch.
»Vielleicht kommt Eure Chance, das zu beweisen, Feldglöck«, sagte er. »Und vielleicht kommt sie viel schneller, als Ihr glaubt.«
»Was ist mit Eurem Gesicht?« fragte Finlay. »Habt Ihr Euch beim Rasieren geschnitten?«
Huth wandte sich schweigend ab. Das Grinsen der drei Stevies verstärkte sich noch. Der große Mann ging zu Evangeline hinüber und unterbrach sie ohne Entschuldigung mitten im Wort. »Der Feldglöck bringt nur Schwierigkeiten. Valentin Wolf ist sein Feind, und das letzte, was wir hier unten gebrauchen können, ist eine blutige Fehde zwischen zwei Aristos.
Ganz besonders nicht dann, wenn so entscheidende Dinge bevorstehen. Schickt ihn weg!«
»Er ist zu uns gekommen, weil er in Not ist«, entgegnete der Wasserfall. »Genau wie einst Ihr selbst. Und er hat uns wenigstens sein Gesicht gezeigt und seinen Namen genannt, im Gegensatz zu Euch. Und da sollen wir ihm nicht dieselbe Güte gewähren, die wir Euch gewährten? Die ganze Welt dort oben ist jetzt sein Feind, genau wie der unsere. Sie würden ihn töten, genau wie sie uns töten würden. Wir nehmen ihn auf.
Vorläufig jedenfalls. Beweist Euch, Finlay Feldglöck, und Ihr werdet willkommen sein. Betrügt uns oder versagt, und wir töten Euch.«
»Verfügt über mich«, erwiderte Finlay. »Mein Schwert gehört Euch.«
Das gewaltige Schwein nickte, grunzte laut und wandte seinen massiven Kopf zu Huth. »Ihr sagtet, Ihr hättet eine wichtige Angelegenheit mit uns zu besprechen. Wir sind hier, also fangt an!«
»In seiner Gegenwart?« fragte Huth und deutete mit einer geringschätzigen Geste auf Finlay. »Ich muß schon sagen! Ich protestiere!«
»Er ist jetzt einer von uns. Akzeptiert ihn, wie wir Euch akzeptieren. Und jetzt fangt an!«
»Wie Ihr wünscht. Wir denken nun schon seit geraumer Zeit über einen Weg nach, wie wir die Esper- und Klonkameraden befreien können, die für unsere Sache zum Tode verurteilt wurden und im Gefängnis sitzen. Die meisten von ihnen werden in Silo Neun festgehalten, auch bekannt unter dem Namen Wurmwächterhölle. Ein Hochsicherheitsgefängnis, das von Dutzenden von ESP-Blockern und einer kleinen Armee von Wachen abgeschirmt wird. Es gilt als ausbruchsicher, und keinem unserer Leute gelang jemals die Flucht. Niemand kam je lebend hinein und wieder heraus, um davon zu berichten.
Wir wollten die Wurmwächterhölle schon oft stürmen, aber wir mußten unseren Angriff jedesmal abbrechen. Die voraussichtlichen Verluste waren einfach zu hoch. Jetzt jedoch bin ich in den Besitz zuverlässiger Informationen gekommen, die alles ändern. Heute abend werden die Wachen komplett ausgetauscht, genau um einundzwanzig Uhr, und neue Sicherheitseinrichtungen werden eingebaut. Für kurze Zeit wird das reinste Chaos ausbrechen, überall fremde Gesichter, die alte Apparate auswechseln und neue einbauen. Der perfekte Zeitpunkt für uns, um einen Angriff durchzuführen und all unsere Kameraden zu befreien, die in der Wurmwächterhölle verrotten. Aber wir müssen uns rasch entscheiden. Wir müssendem zuschlagen, wenn wir den Vorteil nutzen wollen. Die Behörden wissen, wie verwundbar sie während dieser Zeit sein werden, und genau aus diesem Grund wurde die Aktion bis zum allerletzten Augenblick vor praktisch jedermann geheimgehalten. Ich bin nur durch einen glücklichen Zufall dahintergekommen. Ich habe mich bereits mit all unseren Leuten in Verbindung gesetzt, die ich in der Kürze der Zeit erreichen konnte, und sie sind bereit zum Handeln, aber ich kann einen solchen Angriff nicht ohne Eure Genehmigung durchführen.
Wir müssen einfach zuschlagen! Wir werden nie wieder eine bessere Gelegenheit bekommen.«
Die Anführer wandten sich einander zu, und obwohl kein Wort zu hören war, konnte Finlay förmlich spüren, wie telepathische Ströme zwischen ihnen knisterten. Er stellte sich zu Evangeline und sprach mit gedämpfter Stimme. »Was hat das alles zu bedeuten, Evie? Ein Hochsicherheitsgefängnis nur für Esper und Klone? Wie kommt es, daß ich davon noch nie etwas gehört habe?«
»Nicht viele wissen es. Die Eiserne Hexe will verheimlichen, daß die berühmte Konditionierung genauso oft versagt, wie sie gelingt. Die meisten Esper oder Klone sterben bei dem Versuch, sich von ihrer Konditionierung zu befreien, aber eine ständig wachsende Anzahl überlebt. Man hat versucht, die mentalen Blocks und Kontrollen mit Hilfe von technischen Implantaten oder Chemikalien zu verstärken, sie richten mehr Schaden an, als sie nutzen, und es gibt einen dringenden Bedarf an Espern. Wir sind so nützlich, weißt du? Die ›Versager‹ werden in Gefängnisse gesteckt, bis man sich ihrer entledigen kann. Man macht sich nicht die Mühe, Gerichte anzurufen. Klone und Esper sind schließlich keine Personen, sondern Besitz. Silo Neun ist der Ort, wohin die hartnäckigen Fälle geschickt werden. Diejenigen, welche die Kühnheit besessen haben, ihre Befehle in Frage zu stellen, oder die es wagten, eigene Gedanken zu äußern. Und natürlich auch diejenigen, die verdächtig und für schuldig befunden wurden, für den Untergrund gearbeitet zu haben. Offiziell existiert Silo Neun überhaupt nicht. Was bedeutet, daß man mit seinen Insassen tun und lassen kann, was man will. Die Gefangenen sind nichts weiter als lebendiges Fleisch, das man ungestraft für alle Arten von Experimenten mißbrauchen kann. Das Imperium besitzt großes Interesse daran, seine Vorräte an Espern ständig zu vergrößern oder die Methoden zu verfeinern, mit denen man sie kontrollieren und disziplinieren kann. Wir reden hier von Gedankenwäsche, genetischer Manipulation und allen möglichen Arten von mentaler oder körperlicher Folter, die man sich nur denken kann. Manche Methoden funktionieren, manche nicht, aber es gibt immer genügend Lebendfleisch, mit dem man experimentieren kann. Manchmal führt das Imperium auch sogenannte wissenschaftliche Versuche mit ihnen durch. Einige von uns wurden in Silo Neun in wahre Monster verwandelt.«