Johana lag zusammengekrümmt auf dem Betonboden ihrer Zelle, nackt und frierend. Die Zelle war leer, keine Möbel, kein Bett, nicht die geringste Annehmlichkeit, nur vier kahle Betonwände, die einen Raum von vielleicht der doppelten Größe eines normalen Sarges umschlossen, mit einer Decke, die so niedrig war, daß Johana nicht aufrecht stehen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen. Sie hatten sie in diese Zelle geworfen und das Licht ausgeschaltet, hatten laut gelacht und waren dann gegangen. Johana war allein in der Dunkelheit zurückgeblieben. Wasser und Brot war alles, was man ihr zu essen gab; sie steckten es durch ein Loch in der Decke, aber niemand sprach jemals auch nur ein Wort.
Mit Ausnahme des Wurmwächters.
Sie wußte, daß man sie nie wieder aus dieser Zelle lassen würde, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sterben müßte, doch sie hatte keine Ahnung, wann das war. So kam es, daß Johana jedesmal zusammenzuckte, wenn sie die Wachen kommen hörte. Sie hatte Angst, die Wärter würden wegen ihr kommen, und sie kroch in eine Ecke ihrer Zelle und preßte sich ganz dicht an die Wand, als könne sie sich dort vor ihren Schergen verstecken. Aber sie gaben ihr immer nur Wasser und Brot und gingen wieder. Manchmal war es in ihrer Zelle heiß, manchmal kalt. Licht gab es nie. Sie hatte keine Ahnung, wie sie inzwischen aussah, wahrscheinlich ziemlich schlecht. Johana hatte sich kein einziges Mal waschen können, seit man sie hergebracht hatte, wie lange das auch immer hersein mochte. Sie hatte versucht, ihre Mahlzeiten zu zählen, aber schon bald den Faden verloren. Auf dem Boden in der Ecke ihrer Zelle befand sich ein Metallrost, der ihr als Abtritt diente. Johana hatte jedesmal Angst, wenn sie den Rost benutzte.
Manchmal hörte sie Geräusche von unten. Bewegungen. Tiere, die von ihr lebten.
Wie der Wurmwächter.
Am Anfang hatte sie sich die Seele aus dem Hals geschrien, doch das hatte nur dazu geführt, daß sie heiser wurde, und so hatte sie wieder damit aufgehört. Dann hatte sie begonnen, mit sich selbst zu reden, aber irgendwann war ihr der Gesprächsstoff ausgegangen, und sie hatte auch damit wieder aufgehört. Gelegentlich sang sie noch, ein letztes kleines Zeichen von Aufsässigkeit, aber allmählich beunruhigte sie der Klang ihrer eigenen Stimme. Sie stank. Der Gestank in ihrer Zelle nahm zu und ab, gerade soviel, daß sie sich nicht an den Geruch gewöhnen konnte. Johana hatte den Verdacht, daß ihr Wächter es absichtlich so eingerichtet hatte. Es war genau die Art von Spaß, die der Wurmwächter sich mit seinen Gefangenen leistete.
Sie hatten sie ganz leicht gefangennehmen können. Johana glaubte, daß es einen bestimmten Grund dafür gegeben haben mußte, obwohl sie nichts mehr davon wußte. Sie war ein Esper, doch ihre Fähigkeiten waren nur schwach entwickelt, und so hatte man ihr die Aufgabe angetragen, ungeborene Kinder im Mutterleib zu überprüfen und zu testen, ob sich ESP in ihnen entwickelte. Wenn die Antwort positiv ausfiel, wurden die Kinder entweder vor der Geburt abgetrieben oder nach der Geburt ihren Müttern weggenommen, um einem Leben der Ausbildung und Konditionierung zugeführt zu werden. Die Entscheidung war natürlich abhängig davon, ob das entdeckte ESP nützlich schien oder nicht. Die Methode war nicht narrensicher; trotzdem wurden die meisten entdeckt.
Die Mütter hatten Johana alle mit der gleichen beherrschten Verzweiflung angesehen, und sie hatte ihnen allen das gleiche leere Lächeln geschenkt. Für lange Zeit hatte sie nichts anderes als ihre Arbeit getan und sich genau an das gehalten, was man ihr gesagt hatte, ohne je Fragen zu stellen. Genau wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte – aber der konstante Umgang mit so vielen unschuldigen, reinen Kinderseelen war schließlich zuviel geworden. Sie hatte begonnen, ihre Begabung zu nutzen, um das ESP der Säuglinge zu verschleiern.
Es war ihr nicht schwergefallen. Die ESP-Fähigkeiten würden sich bei den Erwachsenen immer noch bemerkbar machen, doch auf diese Weise hatten sie wenigstens eine Chance auf ein halbwegs sicheres, normales Leben in Freiheit. Die Sicherheitsleute waren ihr auf die Schliche gekommen. Sie hatte sich nicht einmal besondere Mühe gegeben, ihre Vergehen zu tarnen. Vielleicht aus Aufsässigkeit. Vielleicht auch, weil unter all ihrer Konditionierung ihr eigenes Selbst hervorgekommen war, oder sonst etwas, das sie vergessen hatte, seit sie hier in der Wurmwächterhölle saß. Egal. Was auch immer es gewesen sein mochte, man hatte sie geschnappt.
Und jetzt war sie hier, allein in der Dunkelheit ihrer Zelle in Silo neun, mit einem Wurm in ihrem Kopf.
Licht fiel von irgendwo in den kleinen Raum. Ein gelbes, ungesundes Licht, das in ihr Assoziationen mit Krankheit und Niedergang hervorrief. Johana blickte an sich hinab und sah die Narben und Blutergüsse auf ihrer fahlen Haut. Der Gestank wurde plötzlich unerträglich, und sie würgte. Ihr Magen zog sich zu einem schmerzhaften Knoten zusammen, als die Fötusse kamen. Sie waren in ihrer Zelle, krochen durch die Schatten und Pfützen aus hellrotem Blut, kahle, rundliche Wesen mit Stummelarmen und -beinen, und sie näherten sich immer weiter, krochen über sie wie eine lebende Decke aus unerbittlichem lebendem Fleisch. Unfertige Fötusse zuckten periodisch auf dem kahlen Beton, während sie versuchten, sich zwischen Johana und den Boden zu zwängen, als wollten sie in ihre Mütterleiber zurückkriechen, aus denen sie so vorzeitig gerissen worden waren.
Johana wollte sie lieben, diese armen, unschuldigen Kreaturen, aber sie wußte bereits, was als nächstes kommen würde.
Der Wurmwächter hatte sie geschickt.
Zähne erschienen in den Säuglingsmündern, scharfe Haifischzähne, die durch blutige Gaumen wuchsen, und ganz langsam, ganz bewußt begannen die Fötusse, Johana mit ihren Haifischzähnen bei lebendigem Leibe aufzufressen. Jedesmal schwor sie sich aufs neue, nicht zu schreien, aber jedesmal schrie sie am Ende doch.
Die Zähne rissen ihr das Fleisch von den Knochen, und sie schrie und schrie und schrie, und ihr Blut floß in Strömen über den kalten Beton. Und während Schmerz und Entsetzen weiter zunahmen, begannen kleine Stummelfinger an ihren fest zusammengepreßten Augenlidern zu fummeln, um an die dahinter liegenden Augäpfel zu kommen…
Obwohl sie wußte, daß nichts davon real war, schrie Johana jedesmal, bis aus ihrer Kehle nur noch ein heiseres Krächzen kam.
Der Wurmwächter liebte seine kleinen Spielchen. Und Spiele mit dem Verstand seiner Gefangenen machten am meisten Spaß von allen.
Der Wurmwächter füllte einen riesigen Saal aus, ein niemals schlafendes, immer wachsames genetisch manipuliertes Monstrum aus schmierigen Fettmassen, das eher an eine Nacktschnecke als an einen Menschen erinnerte. Breite, schwabbelige Massen bleichen Fleisches nahmen den Raum ein, und sein gewaltiger, deformierter Schädel stieß an die Decke.
Lange, dicke Schläuche ragten an zahlreichen Stellen aus seinem Körper, versorgten ihn mit Nahrung und transportierten die Exkremente ab. Er hätte niemals selbst genug essen können, um seinen gewaltigen Hunger zu stillen, und so kümmerten sich die Behörden um seinen Leib, damit sein Geist frei durch die Zellen von Silo Neun streifen konnte. Die Eltern des Wurmwächters waren ganz normale Menschen gewesen, doch die Imperialen Wissenschaftler hatten an ihm gearbeitet und ihn genetisch manipuliert, als er noch ein Embryo gewesen war, um die Talente des vollkommenen Gefängniswärters zu schärfen und auszubilden. Der Wurmwächter kontrollierte und beherrschte den gesamten Betrieb, von den Lektronen, die die Sicherheitsanlagen von Silo Neun steuerten, über die Wachen, die seine Befehle entgegennahmen und durchsetzten, bis hin zu den kleinen Tierchen, die ihm Zutritt zu den Gedanken jedes einzelnen seiner tausend Gefangenen verschafften.
Jedesmal, wenn jemand nach Silo Neun geschickt wurde, aus welchem Grund auch immer, wurde in sein Gehirn ein kleiner, gentechnisch hergestellter, patentierter Wurm eingepflanzt. Der Wurm des Wurmwächters. Die Würmer blockierten die Kräfte der Esper, so daß sie niemanden mehr angreifen konnten, und sie schieden zahlreiche nützliche Substanzen in das Gehirn ihrer Wirte aus, die halfen, die Esper und Klone ruhigzustellen und gefügig zu halten. Und wenn hin und wieder ein Esper oder Klon genügend Kraft fand, gegen die Chemikalien anzukämpfen und einen Fluchtversuch zu wagen, verbrannte der Wurm ihm einfach das Gehirn.