»Links«, sagte Stevie Drei.
Dank der Karte, die in ihren Köpfen hell und deutlich leuchtete wie ein Gral, dauerte es nicht lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Die Korridore vor ihnen lagen seltsam leer und verlassen. Keine Spur war mehr zu sehen von weiteren Kampf espern oder bewaffneten Sicherheitskräften. Das einzige Geräusch in ganz Silo Neun war das ihrer Schritte auf dem metallenen Fußboden, das seltsam hallend von den Wänden zurückgeworfen wurde. Finlay gefiel die Stille überhaupt nicht, und er hielt sein Schwert und seinen Disruptor fest umklammert. Wenn all die anderen Esper freigelassen werden würden, hätte ihr Lärm eigentlich das gesamte Gefängnis erfüllen müssen.
Der Gang, durch den sie sich im Augenblick bewegten, schien zum Verwaltungstrakt zu gehören. Ein verlassenes Büro hinter dem anderen. In den Zellentrakten hing die Decke viel niedriger. Immer noch wurden sie auf Schritt und Tritt von Überwachungskameras verfolgt. Finlay hatte den Stevie Blues verboten, sie weiterhin in Flammen aufgehen zu lassen.
Sie würden all ihre Kräfte dringend brauchen, wenn die Gruppe erst dem Wurmwächter gegenüberstand. Die Kameras ärgerten ihn trotzdem. Was zur Hölle war bloß mit den Kyberratten passiert? Sie sollten das Silo elektronisch stören und die Sicherheitssysteme in den Wahnsinn treiben. Die Fallen, die Huth gestellt hatte, hätten ihre Arbeit nicht beeinträchtigen dürfen.
»Versuch doch bitte noch einmal, mit den Kyberratten Verbindung aufzunehmen«, wandte er sich erneut an Evangeline.
»Ich versuche es die ganze Zeit, Finlay. Ich kriege einfach keine Antwort.«
»Schön, versuch’s halt noch einmal.«
Evangeline funkelte ihn an, aber sie besaß nicht mehr genügend Kraft, um sich wirklich zu ärgern. »An was ist dein letzter Sklave eigentlich gestorben, Feldglöck?«
»Er hat keine Verbindung aufgenommen, als ich es ihm sagte«, entgegnete Finlay. »Mach schon, Evie.«
Sie seufzte und betätigte erneut ihr Komm-Implantat, um sich auf den Kanal der Kyberratten aufzuschalten. »Evangeline an die Ratten, meldet Euch. Was ist los?«
Plötzlich plapperte in ihren Köpfen eine aufgeregte Stimme.
Sie war kaum zu verstehen, so eilig sprudelten die Worte hervor.
»Es ist eine Falle! Eine Falle! Sie warteten bereits auf uns.
In der Matrix. Imperiale KIs. Sie waren groß und mächtig und hell wie die Sonne. Wir waren auf der Stelle blind. Die meisten unserer Leute sind verschwunden, und ein paar sind definitiv tot. Wir können Euch nicht mehr helfen. Wir können nicht einmal uns selbst helfen. Ihr seid auf Euch selbst angewiesen.«
Danke sehr, dachte Finlay, als die Stimme verstummte. Er blickte zu Evangeline. »Dieser Bastard Huth hat uns nicht nur verraten, sondern auch eine verdammt gemeine Falle aufgestellt. Meiner Meinung nach müssen wir davon ausgehen, daß die anderen Gruppen inzwischen entweder tot oder gefangen sind. Unsere Gruppe ist alles, was noch übrig ist.«
»Nein«, widersprach Evangeline. » Mater Mundi ist bei uns.
Mehr brauchen wir nicht, Finlay. Du mußt Vertrauen haben.«
Finlay schwieg diplomatisch und folgte den drei Stevie Blues, die den Weg durch die Verbindungsgänge von Silo Neun voranschritten. Noch immer war keine Spur von irgendwelchen Wachen zu sehen, und die Korridore lagen so still und leise wie ein Dschungel, wenn die darin lebenden Raubtiere sich so eben außer Sichtweite auf die Lauer gelegt hatten und geduldig auf den geeigneten Augenblick zum Zuschlagen warteten. Die kleine Gruppe beeilte sich, einen nackten Gang mit stählernen Türen zu durchqueren. Irgend etwas an den Türen bereitete Finlay Unbehagen. Sie sahen solide aus, wie Türen, die sich nicht gerade häufig öffneten. Er blickte fragend zu Evangeline.
»Hast du vielleicht eine Idee, was hinter diesen Türen liegt?«
»O ja«, erwiderte sie leise. »Hier halten sie die Monster gefangen. Die Esper und Klone, mit denen die sogenannten Wissenschaftler von Silo Neun ihre Experimente durchgeführt haben. Die bedauernswerten Kreaturen sind nicht länger menschlich, weder in ihrer Gestalt noch Verstandesmäßig.
Wir können nichts tun, um sie zu retten. Was mit ihnen geschehen ist, kann niemand mehr rückgängig machen.«
»Und wenn schon, wir können sie doch nicht einfach in ihren Zellen verrotten lassen! Warum sprengen wir nicht die Türen aus sicherer Entfernung auf und lassen sie los? Dann haben sie wenigstens eine Chance, zu entfliehen, und die Behörden wären beschäftigt.«
»Nein. Vergiß nicht, sie haben trotz allem Würmer in ihren Köpfen. Und so lange der Wurmwächter lebt, gehören sie ihm. Mit Leib und Seele. Am Ende führt immer wieder alles zu diesem Teufel, Finlay. Er ist das böse, faulige Herz von Silo Neun. Seine Träume sind es, die Monster ausbrüten. Und jetzt komm weiter und sei etwas leiser, sonst weckst du sie am Ende noch auf.«
Und so gingen sie weiter, durch lange, verlassene Gänge und über Treppen, die immer tiefer und tiefer nach unten führten, mitten hinein in die Hölle des Wurmwächters. Bis sie schließlich vor einer hohen, glatten Mauer standen und der Weg zu Ende war. Finlay zog die Karte in seinem Kopf zu Rate, aber sie befanden sich ganz definitiv in einer Sackgasse.
Hinter der Wand gab es nichts als leeren Raum. Dann studierte er die Karte etwas sorgfältiger und runzelte die Stirn. Für eine leere Halle führten verdammt viele Leitungen und Röhren und Energiekabel durch die Wände hinein und hinaus.
Und schließlich wurde ihm bewußt, was er die ganze Zeit bereits geahnt hatte, ohne es sich eingestehen zu wollen: Sie waren im Nest des Wurmwächters angekommen.
»All dieser Raum nur für ihn allein?« fragte er. »Wie groß ist er denn?«
»Man sagt, sie würden ihm ein neues Nest bauen«, antwortete Evangeline. »Er soll für das jetzige zu groß geworden sein.«
Finlay beschloß, im Augenblick lieber nicht darüber nachzudenken. »Also gut, und wie kommen wir hinein? Welche Verteidigungsmöglichkeiten besitzt er?«
»Er benötigt keine Verteidigungseinrichtungen«, erwiderte Pindar. »Er ist der Wurmwächter. Es gibt keine Wachen, keine hochentwickelten Sicherheitssysteme, nichts. Nur ihn. Und das ist genug. Er ist der stärkste Esper, den das Imperium je hervorgebracht hat. Sein Verstand ist so hoch entwickelt, daß wir ihn nicht einmal ansatzweise begreifen können. Dunkel, undurchsichtig und übermenschlich kraftvoll. Und mit aller Wahrscheinlichkeit vollkommen verrückt.«
Finlay funkelte Pindar böse an. »Ihr habt immer eine Menge guter Neuigkeiten auf Lager, was? Er kann nicht wirklich so mächtig sein. Oder vielleicht doch?«
»Niemand weiß es«, kam Evangeline Pindar zu Hilfe.
»Niemand ist ihm je so nahe gekommen wie wir jetzt. Selbst wenn wir davon ausgehen, daß das Imperium mächtig übertreibt, so muß er doch ganz erstaunliche Fähigkeiten besitzen, um ein Gefängnis dieser Größe ganz alleine zu überwachen.
Er steht mit Hilfe seiner Würmer in ununterbrochenem mentalem Kontakt zu Tausenden von Gefangenen, und er weiß zu jedem Zeitpunkt ganz genau, was jeder einzelne von ihnen gerade denkt oder tut. Noch ein weiterer Grund, aus dem noch nie jemand aus dieser Hölle entkommen ist.«
»Das wird ja von Minute zu Minute besser«, beschwerte sich Finlay. Er hob sein Schwert und die Pistole, aber ihr vertrautes Gewicht hatte alle Kraft und allen Trost verloren. Finlay starrte auf die lange, glatte Mauer, und sie schien seinen Blick ungerührt zu erwidern, ohne ihr Geheimnis zu verraten.
»Alles stirbt, wenn man es nur hart genug und lange genug trifft. Wie kommen wir hinein? Gibt es irgendwo eine verborgene Tür?«
»Keine Türen«, antwortete Evangeline. »Keine Fenster. Der Wurmwächter verläßt niemals sein Nest. Sie haben die Halle rings um ihn hochgezogen und dann versiegelt. Wir müssen uns einen Weg schaffen.«