»Großartig, einfach großartig. Du hast nicht rein zufällig noch ein paar von deinen Granaten dabei?«
»Ihr braucht keine Granaten«, meldete sich Stevie Eins. »Ihr habt uns.«
»Ich hab’ noch nie eine Wand gesehen, die uns hätte widerstehen können«, stimmte Stevie Zwei zu.
»Richtig«, ergänzte Stevie Drei.
Die drei Stevie Blues bezogen Position vor der großen Wand und blickten sie nachdenklich an. Plötzlich begann die Temperatur im Korridor spürbar zu steigen, und Finlay und die anderen zogen sich in sichere Entfernung zurück. Die Wand vor den drei Stevie Blues glühte in feurigem Kirschrot, und Dampf stieg auf. Es wurde heißer und heißer im Korridor, bis schließlich kleine Bäche aus geschmolzenem Metall an der Mauer hinabliefen. Die Hitze vor den Stevie Blues mußte unerträglich sein, aber sie wichen keinen Zentimeter zurück.
Sie hielten sich gegenseitig an den Händen, und Schweiß stand auf ihren Gesichtern, als noch mehr geschmolzenes Metall zu Boden tropfte. Schließlich brach die Wand nach innen weg wie warmer Karamel, und ein Loch erschien. Ein schrecklicher Gestank von faulendem Fleisch und Exkrementen drang in den Korridor. Die drei Stevie Blues verzogen ihre Gesichter simultan zu der gleichen Grimasse und strengten sich noch mehr an. Das Loch wurde rasch größer, und das Metall schmolz jetzt dahin wie Eis in der Sonne. Dann sahen sie zum ersten Mal den Wurmwächter.
Finlay hob einen Arm vor das Gesicht, um sich vor der Hitze zu schützen, und drängte vor. In angeekelter Faszination starrte er auf die schier endlose Ausdehnung blassen Fleisches, die an zahlreichen Stellen von Schläuchen durchbohrt wurde, so dick wie der Arm eines Mannes. Die Wunden waren um die Einstichstellen herum verheilt, und dicke narbige Wülste hatten sich gebildet, über die kleine Ströme von Stoffwechselprodukten rannen. Finlay spähte durch die sich immer noch erweiternde Öffnung, die inzwischen so groß wie eine Tür war, und erkannte dicht unter der Decke das Profil eines gewaltigen, entfernt menschenähnlichen Kopfes. Die Haut war straff gespannt, so daß ein normaler Gesichtsausdruck nicht möglich schien. Während Finlay noch hinblickte, begann der Wurmwächter zu seiner Überraschung böse zu grinsen. Seine Lippen waren beinahe schwarz vom Druck des angestauten Blutes, und die großen Zähne waren von einer schmutzig grauen Farbe. Seine Augen lagen im Schatten verborgen, aber Finlay zweifelte nicht daran, daß der Wurmwächter sie entdeckt hatte.
Die Stevie Blues heulten in plötzlichem Schmerz auf und taumelten von dem Loch zurück, das sie geschaffen hatten.
Sie rissen die Hände hoch und faßten sich an die Köpfe. Finlay und der Rest der Gruppe wurden einen Augenblick später getroffen. Er schrie entsetzt auf, als das Fleisch an seinen Knochen zu verrotten begann. Die Schmerzen waren beinahe unerträglich und erstickten jeden klaren Gedanken. Seine Haut verlor alle Farbe, wurde rissig und spröde, und in den schwindenden Muskeln wimmelten plötzlich Maden. Eiter und faulendes Gewebe fiel von seinen Gliedmaßen ab. Irgendwo in seinem Hinterkopf wußte er, daß das alles nicht real sein konnte, doch sein Körper war anderer Meinung. Der Wurmwächter spielte eins seiner Spiele.
Finlays Hände verkrampften sich um seinen Disruptor und das Schwert, aber er besaß kein Gefühl mehr in ihnen. Wie zur Hölle brachte der Wurmwächter das zustande? Finlay trug keinen Wurm in seinem Kopf, und die Kreatur hatte keinen Zugang zu seinem Verstand wie bei Gefangenen. Er braucht keinen, flüsterten Pindars Gedanken in seinem Kopf. Er bezieht seine Macht aus den Espern, die er mit seinen Würmern kontrolliert. Unsere Kräfte sind im Vergleich zu den seinen weniger als nichts. Einige der Gefangenen versuchen, sich seinem Zugriff zu widersetzen, weil sie wissen, daß wir hier sind, aber er ist zu mächtig, viel zu mächtig. Du bist unsere einzige Chance, Finlay Feldglöck. Du unterliegst seinem Einfluß nicht so leicht, weil du kein ESP besitzt. Töte ihn, Finlay Feldglöck! Töte die Kreatur, bevor unsere Körper wirklich glauben, was man ihnen sagt, und zu faulen beginnen. Er ist dabei zu gewinnen, Finlay Feldglöck. Er tötet uns alle, wenn du nichts unternimmst. Töte ihn! Töte ihn!
Finlay hörte entfernte Schreie. Sie stammten von den Gefangenen des Wurmwächters in ihren Zellen, der sie mit Hilfe der Würmer in ihren Gehirnen antrieb, gegen Finlay und seine Gruppe vorzugehen. Sie standen im Begriff, ihre einzige Hoffnung zu töten, und irgendwie schienen sie es zu wissen.
Beinahe hätte Finlay sich selbst in dem weiten Meer aus anstürmenden Gedanken verloren, aber langsam, Stück für Stück, fand er zu sich zurück schloß jeden anderen aus seinem Verstand aus, indem er sich auf die Übungen des Arenakämpfers besann. Ein einziger Augenblick ohne vollkommene Konzentration kann den Tod bedeuten. Finlay zog sich immer weiter zurück, doch er stand der Macht der Wächters noch immer hilflos gegenüber. Sie alle waren hilflos und allein, allein in der Dunkelheit mit dem Monster, das Wurmwächter genannt wurde.
Und dann geschah ein Wunder. Eines der gequälten Gedankenmuster explodierte in einem alles versengenden Ball von Licht, der die Dunkelheit zurücktrieb. Ein einziges Bewußtsein, rein und mächtig, griff nach draußen, scharte alle Gefangenen um sich und vereinigte sie in einem einzigen Schrei der Wut. Früher Johana Wahn, jetzt Mater Mundi, gab sie ihnen Kraft und Hoffnung und bündelte sie zu einem einzigen gewaltigen Über-Ich, das dem stärksten Esper des Imperiums ebenbürtig war. Aber nur ebenbürtig und nicht mehr. Tausende von Bewußtheiten schwankten hin und her in diesem ÜberIch, zerrissen zwischen Mater Mundis schierer Kraft und den kontrollierenden Würmern direkt an den Synapsen in ihren Köpfen. Die Gefangenen bekämpften sich im wahrsten Sinne des Wortes selbst.
Und auch Finlay wurde in das Über-Ich gesaugt. Er konnte Evangeline neben sich spüren, aber irgendwie blieb sie immer genau außerhalb seiner Reichweite. Die Kräfte des Wurmwächters tosten ringsum wie der Donner mächtiger Schwingen, aber die Kreatur war außerstande, ihn zu packen. Finlay trug keinen Wurm in seinem Kopf, und noch wichtiger: Er war nicht nur ein Bewußtsein, sondern zwei. Und als der Wurmwächter in seinen Kopf eindrang und Finlay zu absorbieren begann, da kam der Maskierte Gladiator frei, unbemerkt, unbeobachtet, lauernd, wartend. Finlay tauchte tief in das Bewußtsein des Wurmwächters ein, scheinbar ein weiterer kleiner Sieg über die Anstrengungen Mater Mundis, ein weiterer Funke, der in der Dunkelheit verlosch, aber im gleichen Augenblick, als der Wächter Finlay Feldglöck umklammerte, begann der Maskierte Gladiator zu handeln. Er sprang vor, wie immer in seinem konturlosen stählernen Helm, dem er seinen Namen verdankte, in der Hand sein Schwert Morgana. Der Wurmwächter bemerkte, daß etwas nicht stimmte, und er spannte sich in einem Reflex – aber er hatte seinen tödlichsten Feind bereits zu tief in sein eigenes Bewußtsein gesogen. Der Maskierte Gladiator erblickte das einzelne, finstere Licht in der Mitte des umgebenden Raums, das ureigene, private Selbst des Wurmwächters, sein Innerstes – seine Seele, wenn die Kreatur denn eine hatte –, und es schien ihm sehr klein und sehr leicht zu überwinden. Und wirklich, es war die leichteste Sache der Welt für den Maskierten Gladiator. Er trat einen Schritt vor, zog seinen Helm ab und blies das Licht aus wie eine Kerze.
Dunkelheit senkte sich herab, als der Wurmwächter starb, und sein letzter, verhallender Schrei erstickte unter dem Triumphgebrüll der Gefangenen von Silo Neun, die endlich frei von seiner Umklammerung waren. Und Finlay Feldglöck, wieder der alte, sah ihnen zu, wie sie aus ihren Gefängniszellen strömten, um ganz sicher zu gehen, daß niemand zurückblieb, und dann schlenderte er lässig aus der Dunkelheit in das Licht, um den Beifall und die Anerkennung der anderen entgegenzunehmen.