Aber das Imperium wehrte sich. Es war in so viele untereinander verfeindete Stämme gespalten, daß wir dachten, es wäre ein schwacher Gegner und leichte Beute. Doch sie fürchteten uns so sehr, daß sie ihre Differenzen beilegten, und plötzlich sahen wir uns einer einzigen, entschlossenen Macht mit all ihren Ressourcen und Möglichkeiten gegenüber. Sicher, wir waren die Überlegenen, aber sie waren zu viele, und am Ende wurden wir Opfer ihrer schieren Zahl. Die Überlebenden flohen zurück in die Dunkelheit, nach Haden, und sie legten sich in die Gruft, um die Jahrhunderte zu durchschlafen. Die Zeit mochte ohne sie vergehen, und eines Tages würden sie vielleicht wieder in einem Imperium erwachen, das eher bereit war, ihre große Überlegenheit anzuerkennen. Die wenigen von uns, die wie ich zurückblieben und den Schlaf des Friedens und der Geborgenheit nicht finden konnten, lebten, so gut es ging, in einem Imperium der Menschen, und sie wurden die ganze Zeit immer schwächer und mehr und mehr menschlich. Wir überlebten, obwohl es so leicht gewesen wäre, sich einfach niederzulegen und zu sterben, und wir überlebten nur aus einem einzigen Grund: Einer von uns mußte den Weg zu der verlorenen Welt Haden finden, um die Schlafenden zu wecken, damit wir einmal mehr für Ruhm und Bestimmung kämpfen konnten. Unsere Zeit ist gekommen, und diesmal wird unser Kampf weitergehen, bis wir entweder Erfolg haben oder alle tot sind.
Und all das nur, weil einige Männer durch das Labyrinth gegangen sind und von ihm verändert wurden. Sagt mir, Todtsteltzer: Was glaubt Ihr, was aus Euch werden wird, wenn Ihr das Labyrinth durchschritten und überlebt habt? Zu welcher neuen Bestimmung werdet Ihr die Menschheit führen?«
Owen blickte den Hadenmann lange schweigend an, dann ließ er sich zurückfallen und sprach wieder mit seinem Vorfahren. »Ich glaube nicht, daß er jemals soviel gesagt hat, seit ich ihn auf Nebelwelt kennengelernt habe. Anscheinend macht ihn die Freude geschwätzig, nach Hause zu kommen. Und du hast mir verdammt gar nichts gesagt, was du mir nicht unbedingt sagen mußtest, eh? Warum zur Hölle ist es so wichtig, daß wir durch dieses Labyrinth gehen? Was wird deiner Meinung nach geschehen?«
»Wir werden größer«, erwiderte Giles. »Wir können nicht so bleiben wie jetzt und hoffen, daß wir dennoch überleben.
Das Imperium wird uns finden und töten. Unsere einzige Hoffnung besteht in einem Schritt ins Dunkel und der Hoffnung, daß wir als neue Menschen daraus hervorgehen. Als Wesen, die auf die eine oder andere Weise imstande sind, dem Imperium zu widerstehen.«
»Und wenn wir zu etwas werden, das nicht mehr menschlich ist?« fragte Hazel.
Giles lächelte unvermittelt. »Dann sollte das Imperium besser beten, daß wir wenigstens als Pazifisten zurückkehren.«
Schließlich erreichten sie das Labyrinth des Wahnsinns und blieben stehen, um auf das Gebilde zu starren, das sich vor ihren Augen erstreckte. Der Wald endete unvermittelt, als würde allein die fremdartige Anwesenheit des Labyrinths ihn zurückwerfen. Es schien auf den ersten Blick wirklich nicht mehr als ein Labyrinth zu sein; ein einfaches Muster aus hohen stählernen Wänden, glänzend und schimmernd. Erst nachdem Owen eine ganze Weile hingesehen hatte, fiel ihm auf, daß die Konstruktion keineswegs so einfach war, wie er im ersten Augenblick gedacht hatte, sondern subtil und verschlungen wie die Windungen eines menschlichen Gehirns.
Es gab keinerlei offensichtliche Fallen, nur stählerne Wände und die schmalen Gänge dazwischen. Die Wände waren knapp vier Meter hoch und nur wenige Millimeter dick. Owen berührte das Metall und zuckte erschrocken zurück. Der Stahl war so tödlich kalt, daß bereits die kurze Berührung leichte Erfrierungen an seinen Fingerspitzen verursacht hatte. Er wich weiter zurück und blies eifrig auf seine Finger. Über dem Labyrinth gab es nichts als Dunkelheit, die auch vom schimmernden Glanz der Metallwände nicht erhellt wurde.
Das Labyrinth des Wahnsinns erstreckte sich vor Owen wie ein schlafendes Raubtier, zu groß, um außenherum zu gehen, und hinter dem Labyrinth lag die Gruft der Hadenmänner.
Owen runzelte die Stirn. Er war sich noch immer nicht sicher, was er von der Gruft halten sollte. Was immer das Labyrinth mit ihm anstellen mochte – er würde die Hilfe der aufgerüsteten Männer von Haden benötigen, wenn seine Rebellion gegen das Imperium auch nur den Hauch einer Chance haben sollte. Aber durfte er das Risiko eingehen, eine Macht zu wecken, die er nicht unter Kontrolle halten konnte? Eine Armee lebendiger Waffen, die sich dem Ziel verschrieben hatte, das Imperium im Namen ihrer eigenen Überlegenheit zu stürzen? Owen empfand keine Zuneigung für das Imperium, aber er war trotzdem noch immer ein Mensch, und das legte ihm auch eine gewisse Verantwortung auf. Er zuckte ärgerlich die Schultern. Das Imperium hatte ihn in die Ecke gedrängt, in der er jetzt stand; sie würden eben mit den Konsequenzen leben müssen. Er hoffte nur, daß das Labyrinth ihm die
Fähigkeit verleihen würde, unter Kontrolle zu halten, was er auf das Universum losließ.
Owen blickte sich zu seinen Kameraden um, die noch immer schweigend das Labyrinth betrachteten. Hazel untersuchte den Eingang, als wartete sie nur darauf, daß jemand hervorkam. Unbewußt hielt sie die größte ihrer Waffen im Anschlag. Ruby Reise zeigte sich lässig wie immer und polierte mit einem Stoffetzen die Klinge ihres Schwertes, während sie Hazel aufmerksam im Auge behielt. Jakob Ohnesorg hatte gedankenverloren die Stirn in tiefe Falten gelegt und die Lippen geschürzt, während er von einer stählernen Wand zur anderen blickte, als würde er nach Einzelheiten suchen, die ihm Aufschluß über ihre Funktionsweise gaben. Tobias Mond stand ein wenig abseits und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Seine strahlendgoldenen Augen schienen direkt durch das Labyrinth hindurch zur Gruft der Hadenmänner zu blicken. Der Wolfling schnupperte mißtrauisch, als würde er nach Anzeichen eines sich nähernden Sturms suchen. Und schließlich Giles Todtsteltzer. Er musterte das Labyrinth, als wäre es ein würdiger Gegner in einem Spiel, dessen Regeln noch nicht ausgearbeitet waren. Owen atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. Es beruhigte ihn nicht halb so sehr, wie er gehofft hatte. Giles hatte den ersten Schritt in das Labyrinth als einen Schritt ins Dunkel beschrieben, und genau diesen Eindruck hatte Owen jetzt. Im Labyrinth konnte alles mögliche auf sie warten. Alles. Aber er mußte hinein.
Das Imperium konnte jederzeit hier eintreffen, und ihm gingen allmählich die Verstecke aus. Der Teufel wartete vor ihm, und der Teufel saß in seinem Nacken. Es war verdammt egal, was er machte.
»Ich weiß nicht, wie es Euch geht«, ergriff Jakob Ohnesorg das Wort, »aber dieses verdammte Ding jagt mir eine Höllenangst ein. Seid Ihr sicher, daß es keine Möglichkeit gibt, es zu umgehen?«
»Nein«, sagte Mond. »Mein Volk umgab die Stadt mit allen möglichen Todesfallen, und sie sind ganz ohne Zweifel noch immer alle funktionsfähig und in exzellentem Zustand. Mein Volk baute die Fallen auf Dauer. Es wollte sichergehen, daß sein Schlaf nicht gestört werden würde.«
»Und warum haben Eure Leute dann das Labyrinth offengelassen?« fragte Hazel stirnrunzelnd.
»Weil es das Labyrinth ist, dem die Hadenmänner ihre Existenz verdanken«, erklärte der Wolfling. »Es macht ihnen angst. Vielleicht das einzige Ding, das ihnen jemals Angst eingejagt hat.«
»Ich für meinen Teil kehre zum Schiff zurück«, sagte Ruby Reise entschieden und steckte ihr Schwert in die Scheide zurück. »Das hier steht nicht in meinem Vertrag. Ich will mich nicht verändern. Ich mag mich genau so, wie ich jetzt bin.«