McGowan nickte langsam. »Ja, es handelt sich um Ihre Eltern... Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß sie...«
»O nein! Sind sie...« Cynthia verstummte, als widerstrebe es ihr, den Satz zu Ende zu bringen.
»Ja, meine Liebe. Ich wollte, ich könnte es Ihnen irgendwie anders sagen, aber... Sie sind beide tot, fürchte ich.«
Cynthia schlug mit einem Aufschrei die Hände vors Gesicht. Dann rief sie laut: »Paige! Paige!«
Als Paige hereingestürmt kam, kreischte Cynthia: »Paige, Mom und Dad... sie sind beide tot...« Während ihre Freundin sie tröstend umarmte, sah Cynthia zu McGowan hinüber. »Sind sie... ist's ein Unfall gewesen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, kein Unfall.« Dann schlug er vor: »Cynthia, wir wollen nichts überstürzen. Sie können unmöglich alles auf einmal verkraften. Dieser Schock reicht fürs erste.«
Paige, die Cynthia fest umarmt hielt, nickte zustimmend. »Sweetie, ich bitte dich! Bloß nicht alles auf einmal. Laß dir Zeit.«
So verging eine weitere Viertelstunde, bis Cynthia - als ihr neues Ich in einer neuen Rolle - die wenigen Einzelheiten, die bisher über den Mord an ihren Eltern bekannt waren, erfuhr.
Danach ließ sie alles um sich herum einfach geschehen. Winslow McGowan und Paige Burdelon nahmen an, Cynthia habe einen Schock erlitten - eine Vermutung, die sie durch benommene Gefügigkeit nährte. McGowan, der jetzt von zwei weiteren uniformierten Polizeibeamten unterstützt wurde, die eifrig telefonierten, erklärte ihr ruhig: »Wir kümmern uns um Ihre Heimreise. Ich habe Ihre letzten Vorträge abgesagt und Ihnen einen Platz in einer Maschine reserviert, die am frühen Nachmittag nonstop nach Miami fliegt. Ein Dienstwagen bringt Sie zum Flughafen.«
»Und ich komme mit, Cynthia«, warf Paige ein. »Du kannst unmöglich allein fliegen. Ich gehe jetzt und packe deine Sachen. Einverstanden?«
Cynthia nickte zustimmend und murmelte: »Ja, danke.« Eine Begleiterin für unterwegs konnte nützlich sein, aber in Miami würde sie Paige nicht lange um sich haben wollen, überlegte sie sich.
Sie blieb auf der Couch liegen, zu der sie geführt worden war, schloß die Augen und kapselte sich von den Aktivitäten um sie herum ab.
Endlich sind deine Eltern tot, dachte sie; nach jahrelangem Warten ist endlich erreicht, worauf du so zielbewußt hingearbeitet hast. Warum empfindest du dann nicht die erhoffte Euphorie, sondern statt dessen eine seltsame Leere? Vielleicht liegt's daran, sagte sie sich, daß außer Patrick Jensen und dir niemand jemals die Wahrheit erfahren wird - dein Motiv und deinen raffinierten Plan für den Doppelmord.
Trotzdem bedauerte sie ihren Entschluß keine Sekunde lang. Dieses Ende war notwendig gewesen; nur so hatte sich ihr Bedürfnis nach Wiedergutmachung für angetanes Unrecht befriedigen lassen. Dies war die gerechte Vergeltung für die abscheuliche, widerwärtige Art, wie Gustav und Eleanor Ernst sie als Kind behandelt und in vieler Beziehung zu dem Menschen gemacht hatten, der sie jetzt war. Zu einem Menschen, den Cynthia, wie sie sich ehrlich eingestand, oft nicht leiden konnte.
Ah! Das war eine entscheidende Frage: Wäre sie ohne diesen glühenden Haß und Zorn, den der perverse Mißbrauch durch ihren Vater und die heuchlerische Untätigkeit ihrer Mutter in ihr hervorgerufen hatten, anders geworden, hätte sie anders werden können? Natürlich!... Ja!... Sie wäre ein anderer Mensch geworden... vielleicht weniger stark... vielleicht freundlicher, gütiger. Wer konnte das sagen? Andererseits war diese Frage irrelevant... sie kam ein halbes Leben zu spät! Die Gußform, aus der Cynthia stammte, war längst zerbrochen. Sie war, was sie jetzt war, und wollte - konnte - sich nicht mehr ändern.
Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen da, als Paiges sanfte Stimme sie aus ihren Überlegungen riß. »Cynthia, alles ist arrangiert. In ein paar Stunden fahren wir zum Flughafen. Vielleicht solltest du noch mal ins Bett gehen und zu schlafen versuchen.«
Cynthia ging erleichtert auf diesen Vorschlag ein. Später verlief der Rückflug an die Ostküste dank Paige ohne irgendwelche Schwierigkeiten.
Vor der Landung in Miami rieb Cynthia sich heimlich ein paar Salzkörner in die Augen. Dieser Trick, den sie damals im Internat bei ihrem ersten und letzten Versuch als Schauspielerin gelernt hatte, rief Tränen und gerötete Augen hervor. In den folgenden Tagen vergoß Cynthia keine echten Tränen, aber weitere Salzkörner und noch gerötete Augen erzeugten den gewünschten Eindruck.
Abgesehen von dieser gespielten Trauer ließ Cynthia seit dem Augenblick ihrer Rückkehr keinen Zweifel daran, daß sie ihre Stärke und Fassung zurückgewonnen hatte, und machte sich daran, alles zu erfahren, was über den Mord an ihren Eltern bekannt war. Ihr eigener Dienstgrad, durch den sie direkten Zugang zu allen Beamten des Police Departments hatte, erleichterte ihr dieses Vorhaben.
Am zweiten Tag nach ihrer Rückkehr besuchte Cynthia die jetzt von gelbem Polizeiabsperrband umgebene Villa ihrer Eltern in Bay Point. Im Salon im Erdgeschoß sprach sie mit Sergeant Hank Brewmaster, der die Ermittlungen im Mordfall Ernst leitete.
»Major, ich möchte Ihnen sagen, wie sehr wir alle...«, begann er, als er sie sah, aber Cynthia brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Hank, ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen und danke Ihnen dafür. Aber wenn ich zuviel davon bekomme - vor allem von einem alten Freund wie Ihnen -, könnte ich die Fassung verlieren. Das müssen Sie bitte verstehen.«
»Ja, das tue ich, Ma'am«, versicherte Brewmaster ihr. »Und ich verspreche Ihnen, daß wir alles tun, um diesen Hundesohn zu fassen, der... «
»Ich möchte alles hören, was Sie wissen«, unterbrach Cynthia ihn. »Soweit ich informiert bin, sehen Sie die Ermordung meiner Eltern als mögliche Tat eines Serienmörders.«
Brewmaster nickte. »Danach sieht's aus, ein klar erkennbares Schema, allerdings mit gewissen Abweichungen.« Dieser Idiot Patrick! dachte sie. »Ich weiß nicht, ob Sie von unserer Besprechung vor zwei Tagen wissen - unmittelbar vor dem Mord an Ihren Eltern -, bei der Malcolm Ainslie eine Verbindung zwischen den früheren vier Doppelmorden und der Offenbarung des Johannes aus der Bibel hergestellt hat?«
Sie schüttelte leicht besorgt den Kopf.
»Als wir bei der Mordkommission diese vier Fälle durchgesprochen haben«, fuhr Brewmaster fort, »hat sich gezeigt, daß an allen Tatorten bestimmte Symbole zurückgelassen worden waren. Aber erst Malcolm mit seiner Vorbildung als Priester hat erkannt, was sie bedeuten.«
Cynthia zog die Augenbrauen hoch. »Sie sprechen immer von vier Doppelmorden. Ich dachte, es hätte vorher nur zwei gegeben, die in diese Serie zu passen scheinen.«
»Nein, es hat einen dritten gegeben - das Ehepaar Urbina in Pine Terrace -, der ins Schema zu passen scheint und nur drei Tage vor der Ermordung Ihrer Eltern verübt worden ist. Und schon vorher ist ein Mord bekanntgeworden, von dem wir nichts geahnt haben.« Brewmaster schilderte ihr kurz den Fall Larsen in Clearwater. »Zeitlich liegt dieser Doppelmord etwa in der Mitte zwischen den Fällen Frost und Hennefeld.«
In Cynthias Kopf klingelten sämtliche Alarmglocken. Während ihrer Abwesenheit schien sich viel Unvorhergesehenes ereignet zu haben. Solche Überraschungen konnten gefährlich werden. Sie mußte möglichst schnell auf den aktuellen Informationsstand kommen.
»Sie haben gesagt, im Fall meiner Eltern habe es gewisse Abweichungen gegeben. Wie meinen Sie das?«
»Nun, als erstes hat der Täter hier ein totes Kaninchen zurückgelassen. Malcolm findet, daß es nicht ins Schema paßt, aber ich weiß nicht, ob er damit recht hat.«
Cynthia wartete.
Brewmaster fuhr fort: »An den übrigen Tatorten hat alles irgendwie zur Offenbarung gepaßt, und unserer Theorie nach dürfte der Täter ein religiöser Spinner sein. Malcolm behauptet, das Kaninchen sei nicht spezifisch - nicht wie die bisherigen Symbole. Aber ich weiß wie gesagt nicht, ob er damit recht hat.«