Das mit dem Kaninchen ist deine Idee gewesen, sagte Cynthia sich betroffen. Anfangs hatte niemand in der Mordkommission die geringste Ahnung gehabt, was die ersten Symbole bedeuten könnten, und das war der Stand der Dinge gewesen, als sie nach Los Angeles abgeflogen war.
»Auffällig abweichend ist der Zeitpunkt«, berichtete der Sergeant weiter. »Zwischen allen übrigen Serienmorden haben jeweils ungefähr zwei Monate gelegen - nie weniger als zwei. Aber zwischen den Urbinas und den Ernsts... sorry, Ihren Eltern... sind's nur drei Tage gewesen.« Brewmaster zuckte mit den Schultern. »Aber das muß natürlich nichts zu bedeuten haben. Serienmörder gehen nicht logisch vor.«
Nein, dachte Cynthia, aber auch Serienmörder müssen ihre Taten vorbereiten, und eine Frist von nur drei Tagen zwischen zwei Doppelmorden ist nicht überzeugend... Verdammt! Schlimmer hätt's nicht kommen können! Dieser zusätzliche Fall in Clearwater hatte alle ihre sorgfältigen Berechnungen über den Haufen geworfen. Sie erinnerte sich daran, was Patrick in Homestead gesagt hatte: Cynthia, ich glaube, du willst zu clever sein.
»Dieser vierte Doppelmord«, sagte sie zu Brewmaster. »Wie haben die Leute gleich wieder geheißen?«
»Urbina.«
»Hat der Fall Aufsehen erregt?«
»Ziemlich. Dicke Schlagzeilen, viel im Fernsehen.« Jetzt war Brewmaster neugierig. »Wie kommen Sie darauf?«
»Oh, ich habe in L.A. gar nichts mitbekommen. Ich bin wohl zu beschäftigt gewesen.« Cynthia wußte, daß das eine schwache Antwort war, und erkannte, daß sie sich im Umgang mit den cleveren Beamten der Mordkommission vorsehen mußte. Brewmasters Antwort zeigte jedoch, daß Patrick von dem Mord an dem Ehepaar Urbina gehört haben mußte. Daraufhin hätte er den in Auftrag gegebenen Doppelmord verschieben müssen, aber vermutlich hatte er keine Möglichkeit gehabt, den Kolumbianer noch zu erreichen, und die Würfel waren gefallen...
Brewmasters Stimme unterbrach ihre Überlegungen. »Andere Einzelheiten stimmen jedoch genau mit den Serienmorden überein, Ma'am.« Sein Tonfall war respektvoll, als wolle er sich halb für seine Frage von vorhin entschuldigen. »Das Bargeld Ihres Vaters ist geraubt worden, aber den Schmuck Ihrer Mutter hat der Täter nicht angerührt; das habe ich sorgfältig überprüft. Und andere Dinge haben auch übereingestimmt, obwohl ich nicht gern darüber rede...«
»Bitte weiter«, verlangte Cynthia. »Ich kann mir denken, was jetzt kommt.«
»Nun, die Verletzungen sind denen in den anderen Mordfällen ähnlich gewesen, und... Wollen Sie das wirklich hören?«
»Irgendwann muß ich's doch erfahren. Warum nicht gleich?«
»Die Wunden sind ziemlich schlimm gewesen; nach Auskunft von Dr. Sanchez hat der Täter wieder ein Bowiemesser benutzt. Und die Opfer...« Brewmaster zögerte erneut. »Sie haben sich gefesselt und geknebelt gegenübergesessen.«
Cynthia wandte sich ab und führte ein Taschentuch an ihre Augen. An dem Stoff hafteten noch einige Salzkörner von der letzten Anwendung, die sie jetzt gebrauchte, bevor sie sich leise hüstelnd wieder umdrehte.
»Eine weitere Übereinstimmung mit früheren Fällen«, fuhr Brewmaster fort, »ist das eingeschaltet zurückgelassene Radio laut aufgedreht.«
Cynthia nickte. »Das weiß ich noch. Hat es in den beiden ersten Fällen nicht Rockmusik gespielt?«
»Ja.« Brewmaster sah in sein Notizbuch. »Diesmal ist WTMI eingestellt gewesen - Klassik und Musicals. Nach Aussage des Butlers der Lieblingssender Ihrer Mutter.«
»Ganz recht.« Innerlich kochte Cynthia vor Wut. Obwohl sie Patrick genaue Anweisungen gegeben hatte, war sein kolumbianischer Killer so dämlich gewesen, nur das Radio einzuschalten, ohne den Sender HOT 105 einzustellen.
Vielleicht hatte Patrick ihre Anweisungen nicht richtig weitergegeben; jedenfalls ließ sich das nicht mehr ändern. Vorläufig schien Brewmaster den Unterschied für nebensächlich zu halten, aber anderen in der Mordkommission konnte er nach genaueren Ermittlungen wichtig erscheinen; Cynthia wußte, wie das System funktionierte.
Verdammt! Sie spürte plötzlich einen unerwarteten Angstschauder.
7
In der dritten Nacht nach ihrer Rückkehr nach Miami schlief Cynthia schlecht: Sie war noch immer nervös wegen unvorhergesehener, aber bedeutsamer Ereignisse während ihrer kurzen Abwesenheit, von denen sie erst nachträglich erfahren hatte. Was kann noch alles schiefgehen? fragte sie sich jetzt.
Sorgen machte ihr auch die Tatsache, daß sie mit Malcolm Ainslie reden mußte - vor allem auch, weil er die Sonderkommission zur Aufklärung der gegenwärtigen Mordserie leitete, zu der auch der Mord an ihren Eltern gezählt wurde. Während Hank Brewmaster die eigentlichen Ermittlungen im Fall Ernst leitete, lag die Gesamtverantwortung bei Ainslie.
Letztlich, das erkannte Cynthia in einem Augenblick rückhaltloser Ehrlichkeit, lief alles darauf hinaus, daß Ainslie der Ermittler war, den sie am meisten fürchtete. Trotz ihrer Verbitterung darüber, daß er ihre Affäre beendet hatte, und ihrer Entschlossenheit, ihre damalige Drohung - Das wirst du für den Rest deines jämmerlichen Lebens bereuen, Malcolm! -wahrzumachen, hatte sich an ihrer Überzeugung, Ainslie sei der beste Kriminalbeamte, den sie kenne, nie etwas geändert.
Weshalb er das war, hatte sie nie ganz ergründen können. Irgendwie besaß Malcolm jedoch die Fähigkeit, die vordergründigen Aspekte seiner Ermittlungen auszuklammern und sich in Opfer und Täter hineinzuversetzen. Wie Cynthia mehrmals miterlebt hatte, führte das oft dazu, daß er in bezug auf Mordfälle zu den richtigen Schlüssen gelangte - entweder allein oder früher als alle anderen.
Cynthia vermutete, daß Ainslies Ausbildung zum Priester etwas damit zu tun hatte, und wie aus Hank Brewmasters Schilderung hervorging, hatte sein hoher Bildungsgrad es ihm ermöglicht, den Zusammenhang zwischen den an den Tatorten der Serienmorde zurückgelassenen bizarren Gegenstände zu erkennen.
Cynthia verdrängte ihre Erinnerungen wieder. Bisher wäre sie nie auf die Idee gekommen, Malcolms Intellekt könnte sich auf sie persönlich auswirken. Jetzt fürchtete sie ihn.
Sie beschloß, das Treffen nicht hinauszuschieben, sondern es sofort hinter sich zu bringen - zu von ihr diktierten Bedingungen. Nach ihrer schlaflos verbrachten Nacht erschien Cynthia am nächsten Morgen schon in aller Frühe bei der Mordkommission, wo sie Lieutenant Newbolds Büro für sich beanspruchte und ihn anwies, Sergeant Ainslie zu ihr zu schicken, sobald er zum Dienst erschien. Malcolm, der zuvor im Haus ihrer Eltern gewesen war, traf wenig später ein.
Nachdem Cynthia ihm unmißverständlich klargemacht hatte, wie groß der Rangunterschied zwischen ihnen war - ein Major stand drei Dienstgrade über einem Sergeant - und daß zwischen ihnen keinerlei persönliche Beziehung mehr existierte, stellte sie ihm präzise Fragen über die Ermordung ihrer Eltern.
Während sie sich die Antworten anhörte, war sie sich darüber im klaren, daß Malcolm sie unauffällig musterte, und begrüßte diese Tatsache. Sein mitfühlender Gesichtsausdruck zeigte ihr, daß er ihre rotgeränderten Augen bemerkt hatte. Ausgezeichnet! Ihre Trauer über den Tod ihrer Eltern war offensichtlich, und Malcolm zweifelte sie nicht an; damit war ihr erstes Ziel erreicht.
Ihr zweites Ziel war, Kraft ihrer Autorität auf schnellste Aufklärung des Mordes an ihren Eltern zu drängen, daß Malcolm gar nicht auf die Idee kommen würde, sie irgendwie zu verdächtigen. Im weiteren Verlauf ihres Gesprächs merkte Cynthia, daß ihr das gelungen war.
Gegen Ende spürte sie bei Malcolm ein gewisses Mißtrauen, als sie ihn nach den Symbolen befragte, die er mit der Offenbarung des Johannes in Verbindung gebracht hatte.