Außerdem vermutete sie, daß er nicht vorhatte, sie über die Arbeit seiner Sonderkommission so lückenlos auf dem laufenden zu halten, wie sie es gefordert hatte. Aber sie hielt es für klüger, nicht allzu nachdrücklich auf diesem Punkt zu bestehen, sondern dieses Gespräch, das eine unangenehme Konfrontation hätte werden können, mit deutlichen Vorteilen für sich zu beenden.
Als die Tür sich hinter Malcolm Ainslie schloß, überlegte Cynthia sich, ob sie seine Fähigkeiten vielleicht nicht doch überschätzt hatte.
Bevor Gustav und Eleanor Ernst mit allem Pomp feierlich beigesetzt wurden, fand am Tag zuvor die Totenwache statt, die acht Stunden dauerte und an der insgesamt etwa neunhundert Personen teilnahmen. Diese zweitägigen Trauerfeierlichkeiten waren etwas, das Cynthia irgendwie durchstehen mußte, obwohl sie sich sehnlichst wünschte, schon alles hinter sich zu haben. Von ihr wurde erwartet, die trauernde Tochter zu spielen, aber zugleich soviel Fassung und Würde zu bewahren, wie ihrem hohen Polizeidienstgrad entsprach. Bemerkungen, die sie aufschnappte, und Beileidsbekundungen von Trauergästen zeigten ihr, daß sie ihre Rolle recht gut gespielt hatte.
Eines der während der Totenwache geführten Gespräche würde hoffentlich bleibende Nachwirkungen haben. Cynthia führte es mit zwei Männern, die sie sehr gut kannte: mit Miamis Oberbürgermeister Lance Karlsson und City Commissioner Orestes Quintero, einem der beiden ehemaligen Kollegen ihres Vaters. Der Oberbürgermeister, ein sonst jovialer ehemaliger Industrieller, sprach traurig über Cynthias Vater und fügte hinzu: »Gustav wird uns sehr fehlen.« Quintero, der etwas jüngere Erbe eines mit Spirituosen erworbenen Familienvermögens, pflichtete ihm bei: »Es wird schwierig werden, ihn zu ersetzen. Er hat so gut verstanden, wie die Stadtverwaltung funktioniert.«
»Ja, ich weiß«, antwortete Cynthia. »Ich wollte, ich könnte irgendwie weitermachen, wo er aufgehört hat.«
Sie sah, wie die beiden Männer einen Blick wechselten, bevor der Oberbürgermeister kaum merklich nickte.
»Entschuldigen Sie mich bitte, ich muß mich anderen Gästen widmen«, sagte Cynthia. Als sie davonging, wußte sie, daß ihre Idee auf fruchtbaren Boden gefallen war.
Einen Tag nach der feierlichen Bestattung saß Cynthia in ihrer Dienststelle am Schreibtisch, als sie einen Anruf bekam, den ihr Gesprächspartner als vertraulich bezeichnete. Nachdem sie kurz zugehört hatte, antwortete sie: »Danke, ich nehme gern an.«
Vierundzwanzig Stunden später gab die Miami City Commission unter Vorsitz von Oberbürgermeister Lance Karlsson bekannt, sie habe satzungsgemäß entschieden, Cynthia Ernst zur Nachfolgerin ihres Vaters zu ernennen, dessen Amtszeit als gewählter City Commissioner in zwei Jahren abgelaufen wäre. Wieder einen Tag später kündigte Cynthia ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst an.
Als weitere Tage und Wochen vergingen, in denen Cynthia ihre neuen Amtspflichten übernahm, fühlte sie sich zunehmend sicherer. Zweieinhalb Monate später wurde Elroy Doil, einer der von der Sonderkommission überwachten Verdächtigen, auf frischer Tat ertappt und wegen Mordes angeklagt. »Animal« Doils Verhaftung am Tatort des Mordes an Kingsley und Nellie Tempone sowie zahlreiche Indizienbeweise ließen Polizei, Medien und Öffentlichkeit glauben, er sei für alle früheren Serienmorde verantwortlich.
Lediglich ein Faktor überschattete die erfolgreichen Ermittlungen der Sonderkommission: die Entscheidung von Staatsanwältin Adele Montesino, Doil lediglich wegen des eindeutig nachweisbaren Doppelmords an dem Ehepaar
Tempone anzuklagen. In den übrigen Fällen war die Beweislage ihrer Meinung nach zwar eindeutig, aber weit weniger zwingend.
Diese Entscheidung löste Proteste der Angehörigen anderer Opfer des Serienmörders aus, denen Commissioner Cynthia Ernst sich anschloß, weil sie wollte, daß Doil auch wegen der Ermordung ihrer Eltern verurteilt wurde. Letztlich machte das aber keinen Unterschied. Doil leugnete alle Morde - auch den an dem Ehepaar Te mpone, bei dem er gefaßt worden war. Die Geschworenen sprachen ihn schuldig, und er wurde zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt - ein Ende, das durch Doils Weigerung, seine Berufungsrechte zu nutzen, noch beschleunigt wurde.
In den sieben Monaten zwischen »Animal« Doils Verurteilung und der Festsetzung des Hinrichtungstermins passierte etwas, das Cynthia Ernsts Nerven äußerst strapazierte. Obwohl ihr neues Leben als City Commissioner ziemlich hektisch war, dachte sie jeden Tag mindestens einmal - wie aus heiterem Himmel - an etwas, das sie sich seit langem vorgenommen, aber bisher nicht durchgeführt hatte. Unbegreiflicherweise hatte sie den Karton mit Belastungsmaterial, das sie in der Nacht, in der Patrick ihr gestanden hatte, seine Exfrau Naomi und Kilburn Holmes erschossen zu haben, zusammengestellt hatte, völlig vergessen. Aber jetzt war sie sich darüber im klaren, daß sie den Karton mit seinem belastenden Inhalt längst hätte beseitigen müssen.
Cynthia wußte genau, wo der Karton stand. Nachdem sie ihn in ihrer Wohnung sorgfältig zugeklebt und versiegelt hatte, nahm sie ihn mit ins Haus ihrer Eltern in Bay Point und verstaute ihn in ihrem Zimmer.
Obwohl das Haus seit dem Tod ihrer Eltern leer stand, hatte Cynthia dort nichts verändert. Sie wollte erst den Erbschein in der Hand haben, bevor sie sich entweder dafür entschied, die Villa in Bay Point zu verkaufen oder sie vielleicht selbst zu bewohnen. Die jeweiligen Testamente von Gustav und Eleanor Ernst wiesen sie als Haupterbin aus. Cynthia hatte in ihrem Elternhaus schon mehrmals Gesellschaften gegeben und beschäftigte daher den Butler Theo Palacio und seine Frau Maria als Hauspersonal weiter.
Cynthia beschloß, den Mittwoch der kommenden Woche für ihre längst überfällige Aktion zu nutzen. Sie wies ihre Sekretärin Ofelia an, sämtliche für diesen Tag eingetragenen Termine zu verlegen und keine neuen zu vereinbaren. Dann begann sie mit den Vorbereitungen für die Versenkung des Belastungsmaterials.
Sie kannte einen Bootseigner, der früher gelegentlich Aufträge ihres Vaters übernommen hatte: ein schweigsamer, bärbeißiger ehemaliger Marineinfanterist, der sich oft am Rand der Legalität bewegte, aber absolut zuverlässig war. Cynthia rief ihn an, erfuhr von ihm, daß er an dem bewußten Mittwoch verfügbar war, und teilte ihm mit: »Ich möchte Ihr Boot für den ganzen Tag mieten und bringe einen Freund mit, aber außer Ihnen darf keine weitere Besatzung an Bord sein.« Der Bootseigner beschwerte sich zwar darüber, daß er die ganze Arbeit allein tun müsse, aber zuletzt war er natürlich doch einverstanden.
Die Behauptung, sie werde einen Freund mitbringen, war eine Lüge. Cynthia würde allein aufkreuzen und nur so lange an Bord bleiben, wie es dauerte, tiefes Wasser zu erreichen, den Karton in einem Blechkasten über Bord zu werfen und an Land zurückzukehren. Aber sie würde eine ganze Tagesmiete bezahlen, damit der Bootseigner den Mund hielt. Und sie kannte einen abgelegenen kleinen Laden, in dem sie am Vortag einen geeigneten Kasten kaufen und bar bezahlen konnte.
Nachdem diese Vorbereitungen getroffen waren, fuhr Cynthia nach Bay Point und ging in ihr Zimmer hinauf. Sie glaubte zu wissen, wo der Karton stehen mußte, konnte ihn aber zu ihrer Überraschung nicht finden. Offenbar hatte ihre Erinnerung getrogen. Sie räumte weitere Gegenstände beiseite, bis schließlich der ganze Schrank leer war, aber der Karton blieb verschwunden. Ihre bis dahin mühsam unterdrückte Besorgnis eskalierte plötzlich.
Keine Panik! Dein Karton ist irgendwo im Haus... er muß irgendwo stehen... daß du nach so lange Zeit nicht mehr genau weißt, wo du ihn hingestellt hast, ist völlig natürlich... laß dir also Zeit, denk in Ruhe darüber nach, wo er noch stehen könnte... Aber auch die Durchsuchung weiterer Räume und Schränke - auch im früheren Elternschlafzimmer - brachte sie nicht weiter.