Für das Police Department war der grausame Mord an einem City Commissioner und seiner Frau schlimm genug -Commissioner Ernst war einer der drei Referenten gewesen, die gemeinsam mit dem Oberbürgermeister, seinem Stellvertreter und dem City Manager die Verwaltungsspitze der Stadt bildeten. Aber Ainslie, Newbold und ihre Kollegen traf das Verbrechen noch schwerer, denn die Tochter des ermordeten Ehepaars war Major Cynthia Ernst, eine hohe Polizeibeamtin in Miami.
Zum Tatzeitpunkt war Cynthia Ernst halb dienstlich, halb privat in Los Angeles. Sie wurde vom L.A. Police Department benachrichtigt und flog sofort »schmerzlich betroffen und zutiefst trauernd«, wie es in den Abendnachrichten hieß, nach Miami zurück, wo sie im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stand.
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Die hastige erste Meldung, der Doppelmord an Miami City Commissioner Ernst und seiner Frau sei offenbar identisch mit der grausamen Ermordung dreier älterer Ehepaare - der Frosts in Coconut Grove, der Hennenfelds in Fort Lauderdale und der Urbinas in Miami -, erwies sich als beunruhigend zutreffend. Inzwischen setzten die Medien auch den Mord an Hal und Mabel Larsen in Clearwater - den Gegenstand des von Ruby Bowe entdeckten fünf Monate alten Fahndungsaufrufs - auf ihre Liste.
Die mit Hochdruck betriebenen Ermittlungen konzentrierten sich auf das Landhaus im mediterranen Stil, in dem das Ehepaar Ernst in dem exklusiven Villenviertel Bay Point - eingezäunt und ständig bewacht - an der Westküste der Biscayne Bay gewohnt hatte.
Dort waren die übel zugerichteten, blutigen Leichen Gustav und Eleanor Ernsts von ihrem Dienstmädchen entdeckt worden. Sie war früh am Morgen ins Haus gekommen und hatte wie immer den Morgentee zubereitet, den sie auf einem Tablett ins Schlafzimmer des Ehepaars brachte. Beim Anblick der beiden, die gefesselt und in einer Blutlache einander gegenübersaßen, stieß sie gellende Schreie aus, ließ das Tablett fallen und kippte vor Schreck um.
Ihre Schreie hörte Theo Palacio, der schon ältere Butler der Ernsts, der mit seiner Frau Maria, die Köchin war, den Haushalt führte. Theo und Maria schliefen an diesem Morgen etwas länger, weil sie - mit Billigung ihrer Arbeitgeber - ausgegangen und erst nach ein Uhr morgens heimgekommen waren.
Auf die Schreckensszene im Schlafzimmer reagierte Palacio rasch: Er lief ans nächste Telefon.
Als Sergeant Brewmaster eintraf, hielt uniformierte Polizei vor dem Haus Wache, während drinnen das Dienstmädchen von einem Notarzt versorgt wurde.
Dion Jacobo und Seth Wightman, zwei Detectives aus Brewmasters Ermittlerteam, waren bereits am Tatort. Brewmaster hatte Jacobo zu seinem Stellvertreter ernannt, was Jacobo etwas zusätzliche Autorität verschaffte, die er angesichts der Bedeutung dieses Falls bestimmt brauchen würde.
Jacobo, ein muskulöser, stämmiger Mann mit zwölfjähriger Berufserfahrung in der Mordkommission, hatte die Uniformierten bereits angewiesen, das gesamte Grundstück mit gelbem Absperrband als Sperrzone zu kennzeichnen.
Nur wenig später trafen Julio Verona und Dr. Sandra Sanchez ein. Verona hatte gleich einen Gerätewagen und drei seiner besten Leute von der Spurensicherung mitgebracht. Wie es hieß, war auch der Polizeipräsident zum Tatort unterwegs.
Scharen von Reportern, die der aufgeregte Polizeifunkverkehr alarmiert hatte, drängten sich vor dem Haupttor von Bay Point, aber das Wachpersonal, das Detective Jacobos Anweisungen befolgte, verwehrte ihnen den Zutritt. Die Reporter spekulierten bereits eifrig darüber, wie der oder die Täter das Sicherheitssystem von Bay Point hatten überwinden und in die Villa der Ernsts eindringen können.
Bei manchen Polizeibehörden löste die Ermordung einer prominenten Persönlichkeit des öffentlichen Lebens »Alarmstufe eins« aus oder wurde weniger offiziell als »Katastrophenfall« eingeordnet. Fiel ein Mordfall in diese Kategorie, hatten die jeweiligen Ermittlungen absoluten Vorrang. In Miami gab es diese Kategorie angeblich nicht; hier galten alle Morde und Mörder als »vor dem Gesetz gleich«. Aber der Mord an Commissioner Ernst und seiner Frau widerlegte diese Theorie bereits.
Einer der Gegenbeweise war das Eintreffen des Chief of Police Farrell W. Ketledge jr. in seinem Dienstwagen, mit einem Sergeant am Steuer. An der Uniform des Chiefs glänzten die vier Sterne, die seinen Dienstgrad bezeichneten, der dem eines Viersternegenerals der U.S. Army entsprach. Bei seinem Eintreffen erklärte Detective Wightman einem der Streifenpolizisten halblaut: »Die Zahl der Morde pro Jahr, bei denen der Chief am Tatort aufkreuzt, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.«
Lieutenant Newbold, der einige Minuten vor ihm angekommen war, empfing den Chief gemeinsam mit Brewmaster am Haupteingang des Hauses.
»Zeigen Sie mir den Tatort, Lieutenant«, befahl der Chief ihm energisch.
»Ja, Sir. Bitte kommen Sie mit.«
Unter Newbolds Führung stiegen die drei Männer eine breite Treppe hinauf, folgten der Galerie nach rechts und kamen zur Schlafzimmertür, die offenstand. Drinnen blieben sie stehen, während der Chief sich umsah.
Die Spurensicherung war bereits am Werk. Dr. Sanchez stand im Hintergrund und wartete darauf, daß ein Fotograf seine Arbeit beendete. Detective Jacobo und Sylvia Waiden sprachen darüber, wo Fingerabdrücke zu finden sein könnten.
»Wer hat die Leichen gefunden?« fragte der Chief. »Was wissen wir bisher?«
Newbold nickte Brewmaster zu, der die Ankunft des Dienstmädchens, ihre morgendliche Teezubereitung und ihre Schreckensschreie beschrieb - alles Informationen, die er dem Butler verdankte. Theo Palacio hatte ausgesagt, seine Frau Maria und er seien vom späten Nachmittag des Vortags bis zum frühen Morgen außer Haus gewesen, um seine schwerbehinderte Schwägerin in West Palm Beach zu besuchen, was sie regelmäßig einmal pro Woche taten. Auch das Dienstmädchen hatte das Haus gestern um siebzehn Uhr verlassen.
»Der Todeszeitpunkt steht noch nicht fest«, fügte Newbold hinzu, »aber bestimmt ist die Tat verübt worden, als Mr. und Mrs. Ernst sich allein im Haus befanden.«
Brewmaster erklärte dem Chief: »Wir prüfen selbstverständlich genau nach, wo sich die Palacios aufgehalten haben, Sir.«
Der Chief nickte. »Als Täter kommt also jemand in Frage, der mit den Zeitabläufen hier im Haus vertraut ist.«
Diese Schlußfolgerung war so offensichtlich, daß Newbold und Brewmaster sich nicht dazu äußerten. Wie sie beide wußten, war Chief Ketledge nie Kriminalbeamter gewesen, sondern war aus der Polizeiverwaltung, in der er sich ausgezeichnet hatte, in die Spitzenposition gelangt. Wie vielen hohen Polizeibeamten machte es dem Chief jedoch Spaß, gelegentlich Detektiv zu spielen.
Der Chief ging weiter ins Zimmer hinein, um einen besseren Überblick zu bekommen. Er trat zuerst neben, dann hinter die beiden leblosen Gestalten, mit denen die Spurensicherung beschäftigt war. Als er sich dann wieder in Bewegung setzen wollte, entfuhr es Dion Jacobo scharf:
»Halt! Nicht dorthin!«
Der Chief drehte sich ruckartig um und starrte Jacobo ungläubig und wütend an, bevor er mit eisiger Stimme fragte: »Und wer... «
Jacobo unterbrach ihn, indem er zackig meldete: »Sir! Detective Jacobo, Chief. Ich leite hier mit Sergeant Brewmaster die Ermittlungen.«
Die beiden standen sich gegenüber. Beide waren Schwarze. Jacobo erwiderte Ketledges Blick unerschrocken.
»Entschuldigen Sie die Lautstärke, Sir«, fügte der Kriminalbeamte hinzu, »aber es ist dringend gewesen.«
Der Chief funkelte ihn weiter an und schien zu überlegen, was er als nächstes tun sollte.
Theoretisch hatte Jacobo das Recht gehabt, diesen Befehl zu geben. Als mitverantwortlicher Ermittler am Tatort konnte er jedem dort Anwesenden ohne Rücksicht auf dessen Dienstgrad Befehle erteilen. Aber dieses Recht wurde nur selten eingefordert - vor allem dann nicht, wenn der Befehlsempfänger sieben Dienstgrade über dem Detective stand.