»Eher nicht. Aber wer weiß, was er denkt - oder warum?«
Abends setzte Ainslie sich zu Hause an Karens PC, auf dessen Festplatte er die komplette King-James-Bibel gespeichert hatte. Am nächsten Morgen teilte er Brewmaster mit: »Ich habe die Bibel von einem Computer nach den Stichworten >Kaninchen<, >Hase< und >Pika< durchsuchen lassen. >Kaninchen< und >Pika< kommen nicht vor, aber >Hase< erscheint zweimal - einmal im Dritten Buch und einmal im Fünften Buch Mose, nicht dagegen in der Offenbarung des Johannes.«
»Hältst du's für möglich, daß unser Kaninchen als Hase und damit als biblisches Symbol gedacht war?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Ainslie zögerte, dann fügte er hinzu: »Aber ich will dir sagen, was ich glaube, nachdem ich gestern lange darüber nachgedacht habe. Ich glaube nicht, daß unser Kaninchen überhaupt ein Symbol aus der Offenbarung ist. Es paßt nicht rein. Ich halte es für einen Schwindel.«
Als Brewmaster zweifelnd die Augenbrauen hochzog, fuhr er fort: »Für alle bisher an den Tatorten zurückgelassenen Symbole hat es ziemlich genaue Entsprechungen gegeben. Natürlich könnte dieses Kaninchen irgendein Tier sein - die Offenbarung ist voller Tiere.« Ainslie schüttelte den Kopf. »Aber irgendwie glaube ich das nicht.«
»Was willst du damit sagen?«
»Was ich nur instinktiv vermute, kann ich nicht beweisen, Hank. Trotzdem sollten wir unvoreingenommen an die Frage herangehen, ob das Ehepaar Ernst wirklich unserem Serienmörder zum Opfer gefallen ist oder ob ein Nachahmungstäter versucht hat, seine Tat als zu dieser Serie gehörend zu tarnen.«
»Hast du vergessen, daß wir in den ersten Fällen keine näheren Einzelheiten bekanntgegeben haben?«
»Trotzdem sind einige veröffentlicht worden. Reporter haben ihre Quellen; das läßt sich nicht verhindern.«
»Nun, das klingt recht verblüffend, Malcolm, und ich werde versuchen, es zu berücksichtigen. Aber da ich den Tatort im Fall Ernst kenne, halte ich deine Theorie für ziemlich abwegig.«
So verblieben sie vorerst.
Wenig später gab Dr. Sandra Sanchez das Ergebnis der Autopsie der beiden Leichen bekannt. Wie sie schon bei der ersten Untersuchung vermutet hatte, war die Tatwaffe ein Bowiemesser gewesen. Doch die Wundmerkmale unterschieden sich von denen der früheren Mordopfer - folglich war ein anderes Messer benutzt worden. Aber das bewies nichts, denn Bowiemesser gab es überall zu kaufen, und ein Serienmörder konnte ohne weiteres mehrere besitzen.
Nach ein paar Tagen schien trotz Malcolm Ainslies Zweifeln immer sicherer festzustehen, daß die Ernsts vom selben Täter wie die ersten acht Opfer ermordet worden waren. Nicht nur die grundlegenden Umstände, sondern auch die ergänzenden waren identisch: das tote Kaninchen, das möglicherweise doch ein Symbol aus der Offenbarung war; der Bargeldraub; der unberührt liegengebliebene Schmuck; das laut aufgedrehte Radio. Und wie in allen früheren Fällen waren keine Fingerabdrücke gefunden worden.
Sorgen machte den Ermittlern jedoch die kurze Zeitspanne -nur drei Tage - zwischen der Ermordung der Urbinas in Pine Terrace und dem Mord an dem Ehepaar Ernst. Bis dahin hatten jeweils zwei bis drei Monate zwischen den Doppelmorden gelegen. Medien und Öffentlichkeit beschäftigten sich mit dieser Tatsache und stellten bohrende Fragen: Hatte der Killer seine tödliche Mission, was immer sie sein mochte, etwa beschleunigt? Hatte er das Gefühl, unbesiegbar zu sein, auf einer Erfolgswoge zu schwimmen? Lag eine besondere Bedeutung in der Tatsache, daß diesmal ein Miami City Commissioner ermordet worden war? Waren auch andere Commissioners oder Personen aus der Führungsspitze der Stadt gefährdet? Und was unternahm die Polizei, um dem Killer beim nächstenmal zuvorzukommen? Tat sie überhaupt etwas?
Die letzte Frage konnte nicht öffentlich beantwortet werden, aber die Sonderkommission unter Sergeant Ainslies Leitung hatte inzwischen mit der Überwachung der sechs Verdächtigen begonnen.
Auch der Mordfall Ernst wurde rasch der Sonderkommission übergeben. Sergeant Brewmaster, der in dieser Sache weiterermittelte, wurde Mitglied der Sonderkommission und unterstand Malcolm Ainslie ebenso wie die Detectives aus Brewmasters Team - Dion Jacobo und Seth Wightman.
Aber noch bevor der Dienstplan der Sonderkommission sich richtig eingespielt hatte, fand eine Besprechung statt, die Ainslie als unvermeidlich vorausgesehen hatte.
7
Zwei Tage nach der Auffindung der verstümmelten Leichen von Gustav und Eleanor Ernst erschien Malcolm um 8.15 Uhr zum Dienst, nachdem er sich zuvor mit Sergeant Brewmaster am Tatort getroffen hatte, um sich über den Stand der Ermittlungen informieren zu lassen. Zu seiner Enttäuschung waren seit dem Vortag keine neuen Hinweise aufgetaucht. Das Ergebnis einer Befragung aller Nachbarn, ob sich in letzter Zeit in Bay Point unbekannte Personen herumgetrieben hatten, faßte Brewmaster mit einem einzigen Wort zusammen: »Nada.«
Im vierten Stock stand Lieutenant Newbold neben Ainslies Schreibtisch. Er nickte zu seinem Dienstzimmer hinüber. »Dort drinnen wartet jemand auf Sie, Malcolm. Beeilen Sie sich!«
Sekunden später stand Ainslie an der Tür des Dienstzimmers seines Chefs und sah Cynthia Ernst an Newbolds Schreibtisch sitzen.
Sie trug eine gutsitzende Polizeiuniform und sah blendend aus. Eigentlich verrückt, sagte Ainslie sich, daß strenggeschnittene Männerkleidung auf dem Körper einer Frau so sexy wirken konnte. Die maßgeschneiderte Uniformjacke mit geraden Schultern und den goldenen Eichenblättern, die ihren Majorsrang bezeichneten, schien die vollkommenen Proportionen ihrer Figur noch zu unterstreichen. Ihr dunkelbraunes kurzes Haar, das vorschriftsmäßig drei Zentimeter oberhalb des Kragens endete, umrahmte ein schmales Gesicht mit makellos hellem Teint und smaragdgrünen Augen, deren Blick durchdringend war. Ainslie nahm den zarten Duft eines vertrauten Parfüms wahr und wurde plötzlich von Erinnerungen überwältigt.
Cynthia, die ein vor ihr liegendes einzelnes Blatt Papier überflogen hatte, sah jetzt mit ausdrucksloser Miene auf.
»Kommen Sie rein«, sagte sie. »Machen Sie die Tür zu.«
Ainslie trat näher und stellte dabei fest, daß ihre Augen gerötet waren. Offenbar hatte sie geweint.
Vor dem Schreibtisch stehend begann er: »Ich möchte Ihnen mein tiefempfundenes Beileid... «
»Danke«, unterbrach Major Ernst ihn rasch. Dann fuhr sie in geschäftsmäßigem Ton fort: »Ich bin hier, weil ich Ihnen ein paar Fragen zu stellen habe, Sergeant.«
Er paßte sich ihrem Tonfall an. »Ich werde versuchen, sie zu beantworten.«
Obwohl Cynthia Ernst ihm jetzt die kalte Schulter zeigte, erregten ihr Anblick und ihre Stimme ihn noch so wie früher, als sie seine Geliebte gewesen war. Aber dieses erotische, aufregende, provokante Zwischenspiel schien jetzt lange zurückzuliegen.
Ihre Affäre hatte vor fünf Jahren begonnen, als sie beide Detectives im Morddezernat gewesen waren. Als Dreiunddreißigjährige - drei Jahre jünger als Malcolm - war Cynthia schön und begehrenswert gewesen. Jetzt erschien sie ihm noch reizvoller. Und auf seltsame Weise machte Cynthias Kälte, mit der sie ihm begegnete, seit sie sich nach ihrer einjährigen Beziehung getrennt hatten, sie noch anziehender als früher. Cynthias erotische Ausstrahlung war so stark, daß Ainslie selbst in dieser gänzlich unromantischen Umgebung eine beginnende Erektion spürte.
Sie deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sagte, ohne zu lächeln: »Sie können Platz nehmen.«
Ainslie gestattete sich ein ganz schwaches Lächeln. »Danke, Major.«
Als er sich setzte, war ihm bewußt, daß Cynthia ihre Grenzen im Verhältnis zu ihm sehr klar abgesteckt hatte - auf die Frage unterschiedlicher Dienstgrade reduziert, wobei ihrer jetzt viel höher als seiner war. Nun, das war in Ordnung. Es konnte nie schaden, genau zu wissen, wo man stand. Trotzdem bedauerte er, daß sie ihm keine Gelegenheit gegeben hatte, ihr sein Beileid auszudrücken. Aber Cynthia sah wieder auf das Blatt Papier, das sie gelesen hatte; sie ließ sich Zeit damit, bevor sie es weglegte und ihn ansah.