»Sie weiß, daß der Kerl sie verfolgt«, sagte Thurston.
Quinones wurde erneut aufgehalten, als ein anderer Wagen vor ihm auf die Eighth Street einbog. Er mußte bremsen, gab dann sofort wieder Gas und raste weiter. Andrews, der inzwischen ebenfalls abgebogen war, blieb hinter ihm.
Dann sahen die Kriminalbeamten die Blondine aus ihrem Honda steigen, der jetzt auf dem Parkplatz eines Apartmenthochhauses stand. Sie lief zum Haupteingang, dessen Tür sie mit ihrem Schlüssel öffnete. Im nächsten Augenblick trat sie in die Eingangshalle, und die Glastür fiel hinter ihr zu.
Fast gleichzeitig hielt Quinones' gelber Chevy in der Nähe des Hondas. Andrews bog auf den Parkplatz ab und hielt an einer Stelle, von der aus die Kriminalbeamten Quinones, der weiter in seinem Auto saß, und das Apartmentgebäude beobachten konnten. Nach einigen Minuten sahen sie in einer Wohnung in einem der unteren Stockwerke Licht aufflammen, das ihnen die Blondine an einem Fenster zeigte. Jedoch nur kurz, weil sie dabei war, die Vorhänge zu schließen.
»Sie weiß, daß er hier draußen lauert«, stellte Thurston fest.
»Yeah, und vielleicht hat er sie schon mal verfolgt. Vielleicht weiß er, in welchem Apartment sie wohnt.«
»Scheiße!« rief Thurston plötzlich. »Er ist weg!«
Während sie zu dem Fenster hinaufgesehen hatten, war Quinones ausgestiegen und hatte den Haupteingang erreicht, dessen Tür er jetzt hinter einem Hausbewohner passierte.
Die Kriminalbeamten sprangen aus dem Auto und spurteten zum Haupteingang. Andrews rüttelte an der Glastür, die aber nicht nachgab. In der Eingangshalle war niemand mehr zu sehen. Thurston drückte sofort auf sämtliche erreichbaren Klingelknöpfe. »Polizei!« rief er in den Türlautsprecher. »Wir verfolgen einen Verdächtigen! Machen Sie uns bitte auf!«
Die meisten Mieter würden mißtrauisch sein, das wußte er, aber vielleicht fand sich doch jemand, der...
Der Türöffner summte laut. »Sie ist offen!« rief Andrews von der Tür aus. Sie stürmten in die Eingangshalle.
»In welchem Stock wohnt sie?« fragte Andrews. »Ich tippe auf den zweiten.«
Thurston nickte. »Los, weiter!«
In der Eingangshalle gab es zwei Aufzüge, die beide unterwegs waren. Andrews drückte auf den Rufknopf. Im nächsten Augenblick öffnete sich der linke Aufzug, und eine alte Dame, die ihren Pekinesen an der Leine führte, trat langsam heraus. Als der Hund keine Lust verspürte, die Kabine zu verlassen, half Thurston nach, indem er ihn an der Leine herauszerrte. Bevor die alte Dame protestieren konnte, standen die beiden Kriminalbeamten schon im Aufzug. Andrews drückte auf den dritten Knopf und zugleich auf einen anderen, damit die Kabinentür sich schloß. Aber die Automatik ließ sich viel Zeit, bis die Schiebetür endlich zuging und die Männer vor Wut kochten.
Im zweiten Stock liefen sie sofort nach rechts, weil sie vermuteten, die Blondine dort an einem Fenster ihrer Wohnung gesehen zu haben. Aber auf dem Flur war es still, und sie sahen nirgends eine aufgebrochene Tür. Thurston klopfte an zwei Wohnungstüren, ohne daß jemand öffnete.
»Hier nicht!« sagte er keuchend. »Also im dritten Stock! Los, wir nehmen die Treppe!« Andrews blieb dicht hinter ihm, als er zum Notausgang am Ende des Korridors rannte. Sie hetzten die Betontreppe hinauf, öffneten die Tür und standen dann in einem identischen Flur, vor einer teilweise zersplitterten Wohnungstür. Im nächsten Augenblick hallte der Knall zweier Schüsse aus dem Apartment. Während die Kriminalbeamten stehenblieben und ihre Dienstwaffe zogen, hörten sie rasch nacheinander vier weitere Schüsse fallen.
Thurston schob sich, mit grimmiger Miene an die Korridorwand gepreßt, näher an die offene Wohnungstür heran. Er machte Andrews ein Zeichen, hinter ihm zu bleiben, und flüsterte: »Ich geh' zuerst rein. Du gibst mir Feuerschutz.«
Während sie sich vorsichtig weiter der Tür näherten, kamen aus der offenen Tür halblaute Geräusche: einige leichte Schritte, danach ein mehrmaliges undefinierbares dumpfes Poltern. Thurston, der seine Pistole schußbereit hielt, streckte langsam den Kopf durch die Tür. Sekunden später ließ er die Waffe sinken und betrat die kleine Diele.
Im Wohnzimmer lag Quinones, der bewußtlos zu sein schien, in einer Blutlache auf dem Bauch. Neben seiner ausgestreckten rechten Hand lag ein Messer mit blitzender Klinge - ein Klappmesser mit Perlmuttgriff, wie Thurston feststellte. Die Blondine, die aus der Nähe älter aussah, war benommen in einem Sessel zusammengesunken. Sie hielt eine zu Boden gerichtete Pistole in der Hand.
Thurston trat auf sie zu. »Ich bin Polizeibeamter«, sagte er. »Geben Sie mir die Waffe.« Er sah, daß die Pistole eine sechsschüssige Rohn Kaliber 22 war. Die Blondine hielt sie ihm bereitwillig hin. Um keine Fingerabdrücke zu verwischen, steckte Thurston einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche durch den Abzugbügel und legte die Waffe vorläufig auf einem Beistelltisch ab.
Andrews, der neben Quinones kniete, hob den Kopf. »Er ist hinüber«, stellte er fest. Dann drehte er den Toten etwas zur Seite und fragte Thurston: »Hast du das gesehen, Charlie?« Er deutete auf Quinones offene Hose, aus der sein Glied heraushing.
»Nein, aber das wundert mich nicht.« Sittlichkeitsverbrecher entblößen sich oft, weil sie glauben, dieser Anblick errege Frauen. »Laß lieber einen Notarzt kommen, der uns bestätigt, daß er tot ist.«
Andrews sprach in sein Handfunkgerät. »Dispatcher, hier Neunzehneinundvierzig.«
»QSK.«
»Schicken Sie einen Notarzt zur siebenzwonulleins Tamiami Canal Road, Apartment dreizwodrei, wo ein möglicher Fünfundvierziger vorliegt. Außerdem brauchen wir zwei Mann, um Neugierige fernzuhalten, und ein Spurensicherungsteam.«
»QSL.«
Als nächstes sprach Thurston über Funk mit Sergeant Malcolm Ainslie und berichtete dem Leiter der Sonderkommission von diesem Vorfall.
»Ich bin in der Nähe«, sagte Ainslie. »Bin in zehn Minuten da.«
Andrews hatte inzwischen angefangen, sich Notizen zu machen und die vor ihnen sitzende Frau zu befragen.
»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Miss?«
Sie schien sich von ihrem Schock erholt zu haben, obwohl ihre Hände noch immer zitterten. »Dulce Gomez.«
Sie sei ledig, sagte sie aus, sechsunddreißig und Mieterin dieser Wohnung. Sie lebe seit zehn Jahren in Miami. Sie war attraktiv, fand Andrews, aber wirkte irgendwie hart.
Gomez berichtete, sie arbeite als Servicetechnikerin bei Southern Bell. Am Miami-Dade Community College studiere sie in Abendkursen Telekommunikation. »Um später einen besseren Job zu kriegen.«
Thurston, der dazugekommen war, zeigte auf Quinones' Leiche. »Kennen Sie diesen Mann, Dulce? Haben Sie ihn schon mal gesehen, bevor er Sie heute verfolgt hat?«
Sie schüttelte sich. »Niemals!«
»Wir haben ihn beobachtet. Vielleicht hat er Sie verfolgt, ohne daß Sie's gemerkt haben.«
»Hmmm, ich hab' ein paarmal das Gefühl gehabt, als ob jemand...« Dann fiel ihr etwas ein. »Der Scheißer hat gewußt, wo ich wohne; er ist direkt raufgekommen.«
Andrews fragte weiter: »Und hat die Tür aufgebrochen?«
Sie nickte. »Er ist wie ein tollwütiger Hund hereingestürmt -mit raushängendem Pimmel und gezücktem Messer.«
»Und dann haben Sie ihn erschossen?« fragte Thurston.
»Nein. Ich hatte meine Pistole nicht zur Hand, also hab' ich mich mit Karate gewehrt. Er hat das Messer verloren.«
»Sie beherrschen Karate?«
»Schwarzer Gürtel. Nach Kopf- und Körpertreffern ist er zu Boden gegangen. Dann hab' ich die Pistole geholt und ihn erschossen.«
»Wo hat die Waffe gelegen?«
»Im Schlafzimmer, in meinem Nachttisch.«
Thurston starrte sie an. »Der Mann ist außer Gefecht gewesen - aber Sie haben trotzdem Ihre Pistole geholt und ihm alle sechs Kugeln verpaßt?«