Ainslie überflog die Laborbefunde und las den in Fotokopie beigefügten polizeilichen Ermittlungsbericht, aus dem hervorging, daß die Esperanzas gutsituiert, aber nicht reich gewesen waren. Laut Aussage ihres in der Nähe wohnenden Neffen hatten sie dreitausend Dollar auf der Bank und für alle Fälle immer ein paar hundert Dollar Bargeld in Reserve. Nach ihrer Ermordung war im Wohnwagen jedoch kein Geld aufgefunden worden.
Ganz hinten in der Akte stieß Ainslie auf den vertrauten Vordruck 301 für Ermittlungsberichte in Mordfällen. Er betraf einen jugendlichen Verdächtigen, der in der Mordsache Esperanza vernommen und dann wegen Mangels an Beweisen freigelassen worden war.
Der Name auf dem Vordruck 301 sprang ihn förmlich an: Elroy Doil.
10
Wie in Florida gesetzlich vorgeschrieben, war Elroy Doils Jugendstrafakte an seinem achtzehnten Geburtstag unter Verschluß genommen worden. Seit damals konnten Ermittler sie nur aufgrund einer richterlichen Anordnung einsehen, die selten gewährt wurde. In den meisten anderen Bundesstaaten existierten ähnliche Gesetze. Wie viele seiner Kollegen hielt Malcolm Ainslie diese Bestimmung für einen juristischen Anachronismus: völlig überholt und einseitig zum Nachteil gesetzestreuer Bürger. Als er am Morgen nach der Entdeckung des Namens Elroy Doil auf einem alten Vordruck 301 in Lieutenant Newbolds Büro kam, breitete er seine mitgebrachten Unterlagen mit kaum unterdrücktem Zorn auf dem Schreibtisch des Lieutenants aus.
»Das ist Wahnsinn! Hier drin stehen Sachen, die wir schon letztes Jahr hätten wissen müssen!«
Vor einer Stunde hatte er im Archiv die alte Ermittlungsakte Esperanza ausgegraben. Sie war nicht vollständig, weil das Verbrechen außerhalb Miamis im Bezirk Metro-Dade verübt worden war. Aber die Ermittlungen waren grenzüberschreitend geführt worden, und die Mordkommission in Miami hatte eine eigene Akte Esperanza angelegt. Darin hatte Ainslie Hinweise auf die Vernehmung Doils gefunden, auf die Sandra Sanchez ihn aufmerksam gemacht hatte. Aber ohne ihren Tip hätte es keinen Grund gegeben, diese längst archivierte Akte auszugraben.
»Doil ist natürlich nie verhaftet oder angeklagt worden«, stellte Newbold fest.
»Weil seine Mutter clever genug gewesen ist, Elroy keine Fingerabdrücke abnehmen zu lassen. In der Nähe des Tatorts ist ein Bowiemesser mit Blutspuren beider Opfer und Fingerabdrücken gefunden worden. Die Kollegen in Metro-Dade wollten die Abdrücke mit denen Doils vergleichen und sind sich ziemlich sicher gewesen, daß sie übereinstimmen würden. Aber weil die Beweise nicht für eine Verhaftung ausgereicht haben und Elroy noch Jugendlicher war, ist's nie dazu gekommen.«
»Erstaunliche Zufälle«, bestätigte Newbold.
»Zufälle? Die Tatmethode im Fall Esperanza entspricht genau den jetzigen Morden. Hätten wir Doils Jugendstrafakte gehabt, wäre uns die Übereinstimmung aufgefallen, und wir hätten ihn längst aus dem Verkehr gezogen.« Ainslie beugte sich nach vorn und starrte seinen Vorgesetzten an. »Ist Ihnen klar, wie viele Menschenleben wir hätten retten können?«
Newbold schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte.
»Hey, Sergeant, das sind nicht meine Gesetze! Machen Sie mir gefälligst keine Vorwürfe!«
Ainslie ließ sich seufzend in den Besuchersessel sinken. »Entschuldigung, Leo. Aber unser ganzes Jugendstrafrecht ist wirklich verrückt. Es gibt einfach keine Jugendkriminalität mehr, sondern nur noch ganz gewöhnliche Verbrechen - das wissen Sie so gut wie ich. Und trotzdem legt uns dieses lächerliche, veraltete System, das bereits vor Jahren hätte abgeschafft werden müssen, weiterhin Beschränkungen auf.«
»Schlagen Sie vor, Jugendstrafakten überhaupt nicht mehr zu schließen?«
»Genau! Jede Straftat muß registriert werden, in den Akten bleiben und bei späteren Ermittlungen herangezogen werden können. Paßt Eltern und Bürgerrechtlern das nicht, sollen sie sich zum Teufel scheren! Wer Straftaten verübt, findet sie in seiner Akte wieder. Das ist der Preis dafür, der unabhängig vom Lebensalter zu zahlen ist - der zu zahlen sein sollte.«
»Was haben Sie als nächstes vor?« fragte Newbold. »Beantragen Sie eine richterliche Anordnung, um Doils Jugendstrafakte einsehen zu dürfen?«
»Daran arbeite ich bereits. Ich habe Curzon Knowles angerufen; er setzt die eidesstattliche Erklärung auf. Damit gehe ich zu Richter Powell. Wir wollen diese Sache vorerst für uns behalten, und er stellt keine überflüssigen Fragen.«
»Ihr alter Freund Phelan Powell?« Newbold lächelte. »Seine Ehren ist Ihnen schon oft gefällig gewesen. Würde ich Sie fragen, womit Sie ihn in der Hand haben, würden Sie's mir natürlich nicht verraten.«
»Ich bin sein unehelicher Sohn«, behauptete Ainslie, ohne eine Miene zu verziehen.
Newbold lachte. »Wie alt wäre er dann gewesen, als er Ihre Mutter geschwängert hat? Zwölf? Also ist's irgendwas anderes, aber das ist in Ordnung. In unserem Beruf sammelt jeder seine Guthaben und Schulden an.«
Damit hatte der Lieutenant natürlich recht.
Vor vielen Jahren, als Detective Ainslie zur Kriminalpolizei gegangen war, sahen sein Partner Ian Deane und er eines Nachts in einer dunklen Sackgasse einen blauen Cadillac stehen. Als sie hinter dem Wagen hielten, stieg auf der Fahrerseite ein nur teilweise bekleideter Weißer aus, der hastig seine Hose hochzog; und auf der rechten Seite tauchte eine spärlich bekleidete junge Schwarze auf. Die Kriminalbeamten erkannten beide. Die Frau war eine Prostituierte namens Wanda; der Mann war Bezirksrichter Phelan Powell, vor dem sie beide schon oft als Zeugen ausgesagt hatten. Powell, ein großer, athletisch gebauter Mann wirkte, anders als sonst, alles andere als gebieterisch.
Wanda und er hielten sich eine Hand über die Augen, blinzelten ins Schweinwerferlicht und bemühten sich verzweifelt, die Neuankömmlinge zu erkennen.
Als Ainslie und Deane ins Scheinwerferlicht traten, sagte Wanda resigniert: »O Scheiße!« Im Gegensatz zu ihr wirkte der Richter leicht benommen. Aber dann begriff er allmählich den Ernst der Lage.
»O Gott! Polizei!« Seine Stimme war vor Verzweiflung heiser. »Ich flehe Sie an... Bitte, bitte übersehen Sie diesen Vorfall! Ich bin ein Idiot gewesen... habe einer plötzlichen Versuchung nachgegeben. Das ist sonst nicht meine Art, aber wenn Sie mich anzeigen, bin ich kompromittiert, erledigt!« Er machte eine Pause, und die drei Männer wechselten verlegene Blicke. »Officers, bitte lassen Sie mich dieses eine Mal laufen! Das vergesse ich Ihnen nie... und was ich für Sie tun kann, das tue ich.«
Ainslie überlegte flüchtig, wie der Richter wohl auf sein eigenes Ansinnen reagieren würde.
Hätten die beiden Kriminalbeamten Powell angezeigt, hätte er sich wegen »Ansprechens einer Prostituierten« und »Herumtreiberei« verantworten müssen. Beides waren leichte Vergehen, die bei Ersttätern schlimmstenfalls mit einer Geldstrafe belegt wurden; das Verfahren hätte sogar eingestellt werden können. Aber Richter Powells Laufbahn wäre damit abrupt beendet gewesen.
Ainslie, der Dienstältere der beiden, zögerte unschlüssig. Er wußte, daß die Justiz blind zu sein hatte, daß sie keine Unterschiede machen durfte. Andererseits...
Ohne den Fall weiter zu analysieren oder bewußt eine Entscheidung zu treffen, sagte Ainslie zu Deane: »Wir sind über Funk gerufen worden, glaube ich. Komm, wir müssen zum Wagen zurück.«
Dann fuhren die Kriminalbeamten weg.
In den folgenden Jahren wurde dieser Vorfall nie mehr erwähnt - weder von Malcolm Ainslie noch von Richter Powell. Ainslie erzählte niemandem davon, und Detective Ian Deane kam wenig später bei einer Schießerei während einer Drogenrazzia in Overtown ums Leben.