Выбрать главу

Aber der Richter hielt Wort. Erschien Ainslie als Polizeibeamter, der die Verhaftung vorgenommen hatte, oder als Zeuge vor ihm, wurde er immer höflich und rücksichtsvoll behandelt. Gelegentlich war Ainslie auch zu Richter Powell gegangen, um aus Ermittlungsgründen eine rasche richterliche Entscheidung zu erwirken, und hatte sie jedesmal erhalten - wie hoffentlich auch diesmal.

Aber bevor Ainslie losfuhr, telefonierte er mit dem Büro des Richters. Phelan Powell hatte im Lauf der Jahre Karriere gemacht und gehörte jetzt dem Berufungsgericht des Dritten Bezirks an. Ainslie erklärte einer Sekretärin, worum es ging, und erfuhr nach kurzem Warten: »Der Richter beginnt eben eine Verhandlung. Aber wenn Sie ins Gerichtsgebäude kommen, ordnet er eine Verhandlungspause an und empfängt Sie im Richterzimmer.«

Unterwegs fuhr Ainslie bei der Staatsanwaltschaft vorbei, um den von Curzon Knowles vorbereiteten Antrag abzuholen. Erst durch Richter Powells Unterschrift wurde er der Schlüssel zu Elroy Doils Jugendstrafakte. Dieses Verfahren war mühsam und zeitraubend - ein weiterer Grund dafür, daß es nur selten angewandt wurde.

Der Gerichtsdiener hatte offenbar Anweisung, auf sein Kommen zu achten, denn sobald Ainslie den Gerichtssaal betrat, wurde er zu einem Sitz in der ersten Reihe geleitet. Richter Powell sah auf, nickte kaum merklich und kündigte wenig später an: »Wir machen jetzt eine Viertelstunde Pause. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen.«

Im Saal standen alle auf, und der Richter zog sich durch die Tür hinter seinem Tisch zurück. Dann kam der Gerichtsdiener und begleitete Ainslie ins Richterzimmer.

Richter Powell, der bereits am Schreibtisch saß, sah ihm lächelnd entgegen. »Herein mit Ihnen! Ich freue mich, Sie zu sehen, Sergeant.« Er bot Ainslie mit einer Handbewegung einen Sessel an. »Lassen Sie mich raten. Die Mordkommission ist nach wie vor im Geschäft.«

»Bis in alle Ewigkeit... danach sieht's jedenfalls aus, Euer Ehren.« Ainslie schilderte Phelan Powell, was ihn hergeführt hatte. Der Richter war noch immer eine imposante Erscheinung, obwohl er im Lauf der Jahre erheblich zugenommen hatte und fast weißhaarig geworden war.

Powell nickte, nachdem Ainslie sein Anliegen vorgetragen hatte. »Okay, Sergeant, ich bin Ihnen gern behilflich. Aber damit alles seine Richtigkeit hat, muß ich Sie fragen, warum Sie Zugang zu dieser Jugendstrafakte beantragen.«

»Sie ist vor zwölf Jahren versiegelt worden, Euer Ehren. Mr. Doil wird jetzt verdächtigt, ein schweres Verbrechen begangen zu haben, und wir glauben, daß bestimmte Informationen aus seiner Jugendzeit unsere Ermittlungen erleichtern könnten.«

»Gut, das genügt mir. Sie sollen Zugang erhalten. Wie ich sehe, haben Sie die Papiere mitgebracht.«

Jeder andere Richter, das wußte Ainslie, hätte seine Antwort auf die vorige Frage als ungenügend abgetan. Und er hätte weitergefragt - eindringlich, vielleicht sogar feindselig. Richter liebten ihre Vorrechte; viele bestanden auf einem regelrechten Wortgefecht, bevor sie irgend etwas genehmigten. Aber Ainslie wollte, daß möglichst wenig Leute erfuhren, daß Elroy Doil jetzt ihr Hauptverdächtiger war. Daß er keine weiteren Erklärungen hatte abgeben müssen, erhöhte die Chancen, daß nicht viel über die Öffnung von Doils Jugendstrafakte gesprochen und spekuliert wurde.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Richter Powell. »Eigentlich müßte ich Sie jetzt vereidigen, aber da wir uns schon so lange kennen, will ich darauf verzichten. Sie kennen die Eidesformel, und ich habe Sie vereidigt. Okay?«

»Ich bin vorschriftsmäßig vereidigt, Euer Ehren.«

Powell unterschrieb und gab ihm die Papiere zurück.

»Ich würde mich gern etwas länger mit Ihnen unterhalten«, sagte der Richter, »aber im Saal warten sie auf mich, und die Anwälte stehen immer unter Zeitdruck. Sie wissen ja, wie das ist.«

»Ja, Richter. Und vielen Dank.«

Sie schüttelten sich die Hand. An der Saaltür blieb Powell noch einmal stehen.

»Sollten Sie wieder mal Hilfe brauchen, können Sie jederzeit zu mir kommen. Sie wissen, daß das mein Ernst ist, jederzeit.«

Als Richter Powell in den Saal zurückkehrte, hörte Ainslie den Gerichtsdiener rufen: »Alles aufstehen!«

Alle Strafakten wurden im Metro-Dade Police Department Building westlich des Flughafens Miami International aufbewahrt. Nachdem Ainslie dort weitere Vordrucke ausgefüllt und unterschrieben hatte, kam Elroy Doils Jugendstrafakte aus dem Archiv und wurde in seiner Gegenwart geöffnet. Dann konnte er sie in einem zur Verfügung gestellten Raum einsehen. Er durfte auch beliebig viele Fotokopien daraus machen, aber nichts aus der Akte mitnehmen.

Die Akte war umfangreicher als erwartet. Als er sie studierte, wurde rasch klar, daß Doil wesentlich öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, als selbst Ainslie vermutet hatte.

Er zählte zweiunddreißig Festnahmen (bei Jugendlichen wurde das Wort Verhaftung nicht benutzt), die zu zwanzig Verurteilungen wegen geringfügiger Vergehen geführt hatten, zweifellos nur ein Bruchteil der Straftaten, die Doil in seinem jungen Leben verübt hatte.

Die Eintragungen begannen mit einem Ladendiebstahl, nachdem Elroy im Alter von zehn Jahren eine Timex-Armbanduhr gestohlen hatte. Mit elf Jahren bettelte er auf Anweisung seiner Mutter an einer Straßenecke um Geld und wurde von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Mit zwölf griff er eine Lehrerin an, deren aufgeplatzte Lippe genäht werden mußte. Nach einer polizeilichen Vernehmung wurde Elroy der Obhut seiner Mutter Beulah Doil übergeben -ein bei jugendlichen Straftätern üblicher Vorgang, der sich über Jahre hinweg wiederholen sollte. Einige Monate später wurde Elroy als Mitglied einer auf Handtaschenraub spezialisierten Jugendbande festgenommen und wieder seiner Mutter übergeben. Als Dreizehnjähriger verletzte er bei einem weiteren Handtaschenraub eine ältere Frau - und kam erneut frei.

Ainslie schüttelte den Kopf. Doils Strafakte bewies wieder einmal, daß Jugendkriminalität von Polizei und Justiz einfach nicht ernstgenommen wurde. Wie er aus eigener Erfahrung wußte, konnte ein Jugendlicher, den ein Polizeibeamter um neun Uhr »festnahm«, wieder auf der Straße sein, bevor dieser Beamte um drei Uhr Dienstschluß hatte. In der Zwischenzeit waren die Eltern ins Polizeipräsidium bestellt und der Jugendliche in ihre Obhut übergeben worden - Fall erledigt.

Selbst wenn Jugendliche vor Gericht kamen, waren die Strafen mild - meistens ein paar Tage Arrest in der Youth Hall, einem nicht unangenehmen Aufenthaltsort, wo die Kids verhältnismäßig bequem untergebracht waren und sich die Zeit mit Videospielen und vor dem Fernseher vertrieben.

Nach Ansicht vieler züchtete dieses System Gewohnheitsverbrecher heran, die als Jugendliche die Überzeugung gewannen, es sei unglaublich leicht, mit Straftaten davonzukommen. Sogar die straffälligen Jugendlichen zugewiesenen Berater teilten diese pessimistische Auffassung und brachten sie auch in ihren Berichten zum Ausdruck.

War ein Jugendlicher zum zweitenmal festgenommen worden, wurde ihm ein Berater zur Seite gestellt. Das waren überlastete, unterbezahlte Leute, die nur wenig oder gar keine Spezialausbildung hatten und kein Collegestudium nachweisen mußten. Jeder dieser Berater, der unrealistisch viele Fälle zu betreuen hatte, sollte den Jugendlichen und ihren Eltern mit Ratschlägen beistehen - auch wenn sein Rat meist ignoriert wurde.

In seiner Zeit als straffälliger Jugendlicher hatte Elroy Doil anscheinend immer den gleichen Berater - einen gewissen Herbert Eiders - gehabt. Die Akte enthielt mehrere Kurzbeurteilungen des Jugendlichen, die Ainslie zeigten, daß Eiders unter schwierigen Bedingungen sein Bestes getan hatte. Eine dieser Beurteilungen schilderte den Dreizehnjährigen als »für sein Alter recht groß und sehr kräftig« und warnte vor seinem »ausgeprägten Hang zu Gewalttätigkeiten«. Im selben Bericht klagte Eiders auch über Mrs. Doils »Gleichgültigkeit«, wenn er versuchte, sie auf dieses Problem anzusprechen.