In einer weiteren von Eiders verfaßten Beurteilung wurde erwähnt, Elroy Doil habe ab seinem zwölften Lebensjahr an der Operation Guidance, einem städtischen Programm für unterprivilegierte Jugendliche, teilgenommen. Dieses Programm wurde von Pater Kevin O'Brien von der Gesu Church in Miami geleitet; es bestand aus sonntäglichen Treffen auf dem Kirchengelände mit gemeinsamen Mahlzeiten, Sport und Bibelstudium. Eiders äußerte sich hoffnungsvoll über Elroys »wachsendes Interesse für Religion und die Bibel«.
Eineinhalb Jahre später hielt ein weiterer Bericht jedoch die enttäuschende Tatsache fest, auch sein Glaubenseifer, den Pater O'Brien als »irrig und sprunghaft« bezeichnete, halte Doil keineswegs von weiteren Straftaten ab.
Ainslie notierte sich Pater O'Briens Adresse und Telefonnummer.
Bis zu Doils Volljährigkeit wies seine Strafakte zahlreiche weitere Vergehen auf, die jedoch nie dazu geführt hatten, daß ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden waren. Bei Jugendlichen setzte das eine Verhaftung wegen eines Kapitalverbrechens oder das Einverständnis eines Erziehungsberechtigten voraus, das Beulah Doil stets verweigert hatte, wie die Protokolle zeigten.
Doils fehlende Fingerabdrücke hatten die Ermittler behindert, als er in dem Fall, mit dem seine Akte schloß, in den dringenden Verdacht geraten war, Clarence und Florentina Esperanza ermordet zu haben. Ohne Fingerabdrücke oder sonstige Beweise war es nicht möglich gewesen, Anklage gegen Elroy Doil zu erheben.
Wie frustriert seine hiesigen Kollegen damals gewesen sein mußten, konnte Ainslie sich gut vorstellen, als er die Akte Doil zuklappte und sich auf den Weg zum nächsten Kopiergerät machte.
Vom Metro-Dade Police Department aus rief Ainslie die Nummer Pater O'Briens an, der selbst am Apparat war. Der Geistliche bestätigte, er erinnere sich noch gut an Elroy Doil und sei bereit, über ihn zu reden. Wenn der Sergeant gleich zur Gesu Church fahren wolle, stehe er ihm in seinem Büro für ein Gespräch zur Verfügung.
Pater Kevin O'Brien, ein lebhafter Ire, jetzt ein Sechziger mit beginnender Glatze, bot seinem Besucher mit einer einladenden Handbewegung den Stuhl vor seinem Schreibtisch an.
Ainslie nahm Platz, bedankte sich dafür, daß der Geistliche sich Zeit für ihn nahm, schilderte ihm kurz, weshalb er sich für Doil interessierte, und fügte hinzu: »Ich bin nicht hier, um Beweise zu finden, Pater. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie mir ein bißchen etwas über ihn erzählen könnten.«
O'Brien nickte nachdenklich. »Ich erinnere mich an Elroy, als hätte ich ihn erst gestern gesehen. Ursprünglich hat er an unserem Programm teilgenommen, weil er die Mahlzeiten brauchte, vermute ich. Aber nach einigen Wochen hat ihn die Bibel förmlich hypnotisiert - viel mehr als die übrigen Jugendlichen.«
»Ist er intelligent?«
»Sogar sehr. Und ein eifriger Leser, was mich wegen seiner marginalen Schulbildung überrascht hat. Ich weiß noch gut, wie fasziniert er von Gewalt und Verbrechen gewesen ist - erst in der Zeitung, dann in der Bibel.« O'Brien lächelte. »Das Alte Testament mit seinen >heiligen Kriegenc, dem Zorn Gottes, Verfolgungen, Rache und Morden hatte es ihm angetan. Sie wissen, welche Stellen ich meine, Sergeant?«
Ainslie nickte. »Ja, die kenne ich.« Tatsächlich hätte er aus dem Gedächtnis die Stellen nennen können, die Doil interessiert haben mußten.
»Ich habe große Hoffnungen in den Jungen gesetzt«, fuhr O'Brien fort, »und anfangs geglaubt, wir verstünden uns gut. Aber das hat sich als Irrtum erwiesen. Bei unseren Gesprächen über die Bibel hat er nur das gelten lassen, was zu seinen Vorstellungen paßte. Er wollte ein Rächer im Auftrag Gottes werden - bestimmt auch, um vermeintliche Ungerechtigkeiten in seinem Leben zu vergelten. Ich habe versucht, ihm die Augen für Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu öffnen, aber seine Ideen sind ständig wirrer geworden. Ich wollte, ich hätte mehr erreicht.«
»Ich denke, Sie haben getan, was Sie konnten, Pater«, sagte Ainslie. »Glauben Sie, daß Doil irgendwie geistig gestört ist? Halten Sie ihn für unzurechnungsfähig?«
»Das will ich nicht behaupten.« Der Geistliche überlegte. »Eines weiß ich bestimmt: Elroy ist ein pathologischer Lügner. Er hat auch gelogen, wenn er nicht hätte lügen müssen. Und er hat mich sogar in Fällen belogen, in denen er wissen mußte, daß ich die Wahrheit kannte. Man hätte glauben können, Elroy habe eine grundsätzliche Aversion gegen die Wahrheit in jeglicher, selbst in harmloser Form.«
O'Brien fügte hinzu: »Das ist so ziemlich alles, was ich Ihnen über Elroy erzählen kann. Er ist einfach ein Junge auf dem falschen Weg gewesen, und aus der Tatsache, daß Sie mich aufgesucht haben, schließe ich, daß er seinen Kurs nicht geändert hat.«
»Anscheinend nicht«, bestätigte Ainslie. »Noch eine letzte Frage, Pater. Haben Sie jemals den Verdacht gehabt, Doil trage eine Schußwaffe? Oder irgendeine Waffe?«
»Ja«, sagte O'Brien sofort. »Daran erinnere ich mich gut. Die meisten Jugendlichen haben ständig über Schußwaffen geredet, obwohl ich ihnen verboten hatte, welche in die Kirche mitzubringen. Aber Elroy hat Schußwaffen abgelehnt, hat nichts von ihnen wissen wollen. Die anderen haben erzählt, er trage ein Messer bei sich - ein großes Messer, mit dem er vor seinen Freunden angegeben hat.«
»Haben Sie dieses Messer jemals gesehen?«
»Natürlich nicht. Sonst hätte ich's konfisziert.« Ainslie schüttelte O'Brien zum Abschied die Hand und sagte: »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Pater. Elroy Doil bleibt ein Rätsel, aber Sie haben mir geholfen, ihn etwas besser kennenzulernen.«
Ainslie kam am frühen Nachmittag in die Dienststelle zurück und setzte für sechzehn Uhr eine Besprechung mit ausgewählten Mitgliedern der Sonderkommission an. Auf der Liste, die er einer Sekretärin gab, standen die Sergeants Pablo Greene und Hank Brewmaster sowie die Detectives Bernard Quinn, Ruby Bowe, Esteban Kralik, Jose Garcia, Dion Jacobo, Charlie Thurston, Seth Wightman, Gus Janek und Luis Linares. Sie alle waren an der Überwachungsaktion beteiligt gewesen.
Detective Dan Zagaki, der ebenfalls dabei war, stand nicht auf der Liste. Als der junge Kriminalbeamte nachmittags in der Dienststelle erschien, ging Ainslie mit ihm zu einem privaten Gespräch in ein freies Büro. Zagaki fühlte sich sichtlich unbehaglich, als er Platz nahm.
Zagaki war erst vor einem Vierteljahr zur Mordkommission versetzt worden, nachdem er zwei Jahre Streifendienst gemacht und immer sehr gute Beurteilungen erhalten hatte. Er stammte aus einer alten Offiziersfamilie: Sein Vater war General in der U.S. Army, sein älterer Bruder Oberstleutnant im Marine Corps. In der Mordkommission hatte Zagaki stets Diensteifer und Einsatzbereitschaft bewiesen - vielleicht von beidem zuviel, überlegte Ainslie sich jetzt.
»Während Ihrer Überwachungstätigkeit«, sagte Ainslie, »haben Sie mir gemeldet, Elroy Doil sei wahrscheinlich nicht unser Mörder. Sie haben empfohlen, ihn nicht weiter zu observieren. Stimmt das?«
»Ja, das stimmt, Sergeant. Aber mein Partner Luis Linares ist der gleichen Meinung gewesen.«
»Nicht ganz. Als ich mit Linares gesprochen habe, hat er gesagt, auch er halte Doil für einen unwahrscheinlichen Kandidaten. Aber er hat nicht dafür plädiert, seine Überwachung einzustellen. >Soweit würde ich nicht gehenc, hat er mir erklärt.«
Zagaki war sichtlich geknickt. »Ich hab' mich getäuscht, was? Das wollen Sie mir doch sagen, oder?«
Ainslies Tonfall wurde schärfer. »Ja, Sie haben sich getäuscht, sogar gefährlich getäuscht. Empfehlungen von Detectives werden ernstgenommen, obwohl ich Ihre zum Glück nicht beachtet habe. Hier, lesen Sie selbst!« Er legte Zagaki mehrere Fotokopien hin: den Vordruck 301, auf den Sandra Sanchez gestoßen war, eine Zusammenfassung der Ermittlungen im Mordfall Esperanza, in dem Elroy Doil vor siebzehn Jahren als Hauptverdächtiger benannt worden war, und drei Seiten aus Doils Jugendstrafakte.