»QSL.«
Kurze Zeit später hörte Ainslie bereits die erste Sirene, als eine Streifenwagenbesatzung auf den rasch gesendeten Code 315 reagierte: 3 für »Notfall« und 15 für »Polizeibeamter braucht Hilfe«.
Newbold und Jacobo würden seinen Funkspruch mitgehört haben und schon zu ihm unterwegs sein. Vorerst konnte Ainslie nur warten.
Dann bekam er über sein Kombigerät einen Anruf des Wachleiters in der Nachrichtenzentrale. Der Sergeant sprach ruhig, aber schnell.
»Malcolm, ich hab' eben deinen Funkspruch mitgehört. Ich habe einen Jungen am Telefon, der meldet, daß ein großer Mann seine Großeltern in ihrem Haus überfallen hat und sie schlägt und mit einem Messer massakriert.«
»Das ist Doil, Harry! Gib mir schnell die Adresse.«
»Augenblick, die krieg' ich gerade. Der Junge muß ins Telefon flüstern.« Ainslie hörte, wie der Wachleiter dem Anrufer, den er »Ivan« nannte, geduldig Fragen stellte. »Er sagt, daß seine Großeltern Tempone heißen und in der Tigertail Avenue wohnen... Nummer sechzehndreiundvierzig! Ich habe einen Notarzt alarmiert, Malcolm, und ändere die dreifünfzehn in dreieinunddreißig um.« Das bedeutete »Notfall - Mord wird verübt«.
Ainslie hörte kaum noch hin. Er rannte bereits die Tigertail Avenue entlang. Dan Zagaki hielt mit ihm Schritt, aber Ainslie beachtete ihn nicht weiter.
Als sie herankamen, sahen sie die Hausnummer 1643 am Torpfosten einer großen zweigeschossigen Villa mit gepflasterter Auffahrt, Säulenvordach und schwerer geschnitzter Haustür. Ein Zaun aus Eisenstäben, hinter dem als Sichtschutz hohe Büsche gepflanzt waren, umgab das gesamte Grundstück. Ein zweiflügliges schmiedeeisernes Tor sicherte die Einfahrt, aber ein Flügel war nur angelehnt.
Als Ainslie und Zagaki das Gittertor erreichten, hielten dort zwei Streifenwagen mit Blinklichtern, verklingenden Sirenen und quietschenden Reifen. Vier uniformierte Polizisten sprangen mit gezogenen Waffen heraus. Zwei weitere Streifenwagen kamen aus beiden Richtungen die Tigertail Avenue entlanggerast.
Ainslie wies seine Polizeiplakette vor und beschrieb ihnen rasch den Gesuchten. »Wir glauben, daß er drinnen ist -vielleicht in diesem Augenblick mordet.« Er deutete auf zwei der Beamten. »Ihr beide kommt mit mir.« Zu den anderen sagte er: »Gendry, Sie übernehmen den Befehl und sperren die Tigertail Avenue weiträumig ab. Keiner darf rein oder raus, bevor Sie von mir hören.«
Plötzlich rief einer der Beamten: »Sergeant, dort drüben!« Er zeigte auf die Ostseite des Hauses, wo eine schemenhafte Gestalt einen Fußweg entlangschlich. Ein anderer Streifenpolizist richtete seine starke Stabtaschenlampe auf sie. Sie erhellte den Rücken eines großen Mannes, der ein rotes Hemd und eine dunkle Hose trug.
»Das ist er!« rief Ainslie. Die anderen folgten dichtauf, als er mit schußbereiter Pistole durchs Tor und über den Rasen stürmte. Doil hörte sie kommen und rannte davon. »Halt, stehenbleiben, Doil«, rief Ainslie, »sonst puste ich Ihnen Ihr verdammtes Gehirn weg!«
Der Mann blieb stehen, drehte sich um. »Fuck you!« knurrte Doil.
Als Ainslie näher herankam, sah er, daß Doil ein Messer in der rechten Hand hielt - und daß seine beiden Hände in Latexhandschuhen steckten.
»Lassen Sie das Messer fallen!« befahl Ainslie ihm scharf. Als Doil zögerte, fügte er hinzu: »Und runter mit den Handschuhen! Lassen Sie sie neben das Messer fallen.«
Doil gehorchte langsam. Dann blaffte Ainslie ihn an: »Hinlegen, Hundesohn, und Hände auf den Rücken! Los, Beeilung!«
Auch diesem Befehl gehorchte Doil, betont langsam, während Ainslie ihn weiter mit seiner Pistole in Schach hielt. Zagaki trat vor, packte Doils Handgelenke und legte ihm Handschellen an. In diesem Augenblick erhellte ein hinter ihnen aufflammendes Blitzlicht die Szene.
Ainslie warf sich instinktiv mit noch schußbereiter Waffe herum, aber dann hörte er eine Frauenstimme: »Sorry, Chief. Aber dafür werde ich von den Zeitungen bezahlt.«
»Verdammt«, murmelte Ainslie und ließ die Pistole sinken. Obwohl er wußte, daß Fotografen, Kamerateams und Reporter den Polizeifunk abhörten und rasch zur Stelle waren, wenn sie eine Story witterten, ärgerte er sich darüber, sie so rasch zu sehen. Er wandte sich an die Streifenpolizisten. »Sperrt die Umgebung des Hauses mit Band ab und sorgt dafür, daß niemand näher als zwanzig Meter herankommt.«
Prompt wurde das gelbe Kunststoffband mit dem Aufdruck POLICE LINE - DO NOT CROSS, das zur Ausrüstung aller Streifenwagen gehörte, um alle irgendwie geeigneten Gegenstände geschlungen - Bäume, Laternenpfähle, Zaunpfosten und die Außenspiegel zweier Streifenwagen -, so daß es eine visuelle Barriere zwischen den Kriminalbeamten und der rasch anwachsenden Menge aus Neugierigen und Reportern bildete.
Zagaki, der neben Elroy Doil kniete, rief laut: »Der Kerl ist über und über mit Blut verschmiert! Das Messer und die Handschuhe sind auch blutig.«
»Nein!« ächzte Ainslie, weil er instinktiv wußte, daß seine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen waren. Er riß sich zusammen, um den neu hinzugekommenen Streifenpolizisten Anweisungen zu geben. »Zwei von euch ziehen diesen Kerl bis auf die Unterwäsche aus - auch Schuhe und Socken. Laßt seine Sachen nicht auf den Boden fallen, verwischt keine Blutspuren und steckt alles möglichst schnell in Plastikbeutel - vor allem sein Messer und die Handschuhe. Und bleibt wachsam; laßt ihn keine Sekunde aus den Augen. Der Kerl ist gewalttätig und gefährlich.«
Elroy Doil sollte ausgezogen werden, um die Blutspuren an seiner Kleidung im jetzigen Zustand zu konservieren. Zeigte ein DNA-Test, daß das Blut von seinen Opfern stammte, war eine Verurteilung so gut wie sicher.
Inzwischen waren auch Leo Newbold und Dion Jacobo eingetroffen. Der Lieutenant fragte Ainslie: »Sind Sie schon drinnen gewesen?«
»Nein, Sir. Bin gerade unterwegs.«
»Wir kommen mit, okay?«
»Natürlich.«
Ainslie nickte dem Streifenpolizisten zu, der als erster am Tatort gewesen war. »Sie kommen mit uns. Bleiben Sie in unserer Nähe, und fassen Sie nichts an, verstanden?« Zu Zagaki sagte er nur: »Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle.«
Dann gingen die vier unter Ainslies Führung auf das Haus zu.
Eine Seitentür stand offen - vermutlich weil Doil auf diesem Weg das Haus verlassen hatte. Der Flur dahinter war nur schwach beleuchtet. Ainslie knipste das Licht an. Der Korridor führte in eine holzgetäfelte Eingangshalle mit einer elegant geschwungenen breiten Treppe. Auf der untersten Stufe saß ein kleiner Junge - Ainslie schätzte ihn auf zehn, höchstens zwölf Jahre -, der blicklos ins Leere starrte und heftig zitterte.
Ainslie kniete sich zu ihm nieder, legte einen Arm um seine Schultern und fragte freundlich: »Bist du Ivan?« Den anderen erklärte er: »Er hat neuneinseins angerufen.« Der Junge nickte kaum merklich.
»Kannst du uns sagen, wo... «
Der Junge schien noch kleiner zu werden, drehte sich aber um, sah die Treppe hinauf und zitterte dann noch mehr.
»Entschuldigung, Sergeant«, warf der Streifenpolizist ein, »er hat einen Schock. Die Anzeichen kenne ich. Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen.«
»Können Sie ihn raustragen?«
»Klar kann ich das.«
»Der Notarzt ist alarmiert«, erklärte Ainslie ihm. »Er ist bestimmt schon draußen. Wird der Junge ins Jackson Memorial gebracht, fahren Sie mit und melden sich von dort aus. Lassen Sie den Jungen unter keinen Umständen allein; wir brauchen seine Aussage noch. Ist das klar?«
»Alles klar, Sergeant.« Der Uniformierte hob den Kleinen mühelos hoch. »Komm, wir gehen, Ivan.« Beim Hinausgehen hörte Ainslie ihn tröstend sagen: »Das wird schon wieder, Sohn. Halt dich nur gut an mir fest.«