Ainslie, Newbold und Jacobo stiegen die Treppe hinauf. Im ersten Stock fanden sie eine offene Tür, aus der Licht drang. Die drei Männer traten über die Schwelle und blieben stehen, um den Tatort in Augenschein zu nehmen.
Dion Jacobo, der als Veteran schon viele Mordopfer gesehen hatte, stieß einen erstickten Laut aus, bevor er stöhnend die Worte herauswürgte: »O mein Gott! O mein Gott!«
Wie Ainslie befürchtet hatte, als er Doils blutbefleckte Kleidung sah, standen sie vor einer Wiederholung der früheren Doppelmorde, diesmal an einem älteren schwarzen Ehepaar. Der einzige Unterschied bestand darin, daß Doil offenbar hastiger und weniger präzise vorgegangen war - vermutlich hatte er die rasch näher kommenden Polizeisirenen gehört.
Die beiden Toten saßen sich gefesselt und geknebelt gegenüber; sie waren durch Schläge auf Kopf und Oberkörper brutal mißhandelt worden. Ein Arm der Frau war verdreht und gebrochen, das rechte Auge des Mannes ausgestochen. Im Vergleich zu den früheren Morden waren die Stichwunden offenbar willkürlicher und tiefer. Alles schien in höchster Eile geschehen zu sein, als habe der Killer geahnt, daß ihm diesmal nicht viel Zeit bleiben würde.
Ainslie stand wie versteinert da, bemühte sich, seine abgrundtiefe Verzweiflung unter Kontrolle zu halten, und war sich bewußt, daß er diese Szene und sein eigenes Schuldbewußtsein niemals würde vergessen können. Nachdem er fast eine Minute bewegungslos dagestanden hatte, holte Leo Newbolds Stimme ihn in die Realität zurück. »Malcolm, alles in Ordnung mit Ihnen?«
Er nickte mühsam. »Ja, Sir.«
»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Newbold halblaut, »und habe nicht vor, Sie diese Last allein tragen zu lassen. Wir reden darüber, aber wie wär's, wenn Sie jetzt heimfahren und sich ausruhen würden? Sie sind übermüdet, das sieht man Ihnen an. Dion kann die weiteren Ermittlungen leiten.«
Ainslie schüttelte den Kopf. »Ich bring' die Sache zu Ende, Lieutenant, aber es wäre gut, wenn Dion mir dabei helfen würde. Trotzdem vielen Dank.«
Er griff nach seinem Handfunkgerät, um das Standardverfahren einzuleiten.
Es war kurz nach ein Uhr morgens, als Malcolm Ainslie endlich nach Hause kam, wo Karen, die er vor mehreren Stunden hatte anrufen können, in einem blaßgrünen Morgenrock auf ihn wartete. Als sie ihn sah, breitete sie die Arme aus und drückte ihn fest an sich. Nach einiger Zeit ließ sie ihn los, sah zu ihm auf und berührte sein Gesicht.
»War's schlimm?«
Er nickte langsam. »Ziemlich.« »Oh, Liebling, wieviel mehr kannst du noch ertragen?«
Ainslie seufzte. »Von der Art wie heute abend nicht mehr viel.«
Sie schmiegte sich an ihn. »Ich bin froh, daß du wieder da bist. Möchtest du darüber reden?«
»Vielleicht morgen. Nicht jetzt.«
»Malcolm, Liebster, geh jetzt ins Bett. Ich bringe dir noch etwas.«
Dieses »Etwas« war heiße Ovomaltine, ein Getränk aus seiner Kindheit, das er vor dem Einschlafen gern zu sich nahm. Als er den Becher geleert hatte und sich auf sein Kopfkissen zurücksinken ließ, meinte Karen: »Das müßte dir helfen einzuschlafen.«
»Und die Alpträume verscheuchen?«
Sie schlüpfte zu ihm unter die Bettdecke und drückte ihn nochmals an sich. »Die halte ich von dir fern.«
Aber während Malcolm erschöpft in den Schlaf fiel, lag Karen noch lange sorgenvoll wach. Wie lange, fragte sie sich, konnten sie dieses Leben durchhalten? Früher oder später würde Malcolm sich zwischen seiner Familie und den Dämonen seiner Arbeit entscheiden müssen. Wie so viele Ehefrauen von Kriminalbeamten in Vergangenheit und Gegenwart konnte Karen sich nicht vorstellen, daß ihre Ehe auf Dauer mit der jetzigen beruflichen Laufbahn ihres Mannes unter einen Hut zu bringen war.
Der nächste Tag brachte ein Postskriptum, das geradezu eine Ironie des Schicksals war. Eine Berufsfotografin mit Verbindungen zu Bildagenturen wohnte in Bay Heights ganz in der Nähe der Villa des ermordeten Ehepaars Tempone. Deshalb war sie so rasch am Tatort gewesen und hatte ein Blitzlichtfoto gemacht, als Doil überwältigt wurde.
Der dramatische Schnappschuß zeigte Doil auf dem Bauch im Gras liegend, während Detective Dan Zagaki dem sich Wehrenden Handschellen anlegte. Diese von Associated Press verbreitete Aufnahme erschien in allen großen amerikanischen Zeitungen mit der Bildunterschrift:
Ein heldenhafter Polizist
Nach dramatischer Verfolgungsjagd überwältigt Detective Dan Zagaki von der Miami Police den Verdächtigen Elroy Doil, der ein schwarzes Ehepaar ermordet haben soll und wegen einer Mordserie verhört wird. Auf die Frage nach seiner Arbeit und ihren Gefahren antwortet Zagaki: »Sie ist manchmal riskant. Man tut einfach nur sein Bestes.« Er ist Sohn von General Thaddeus Zagaki, Kommandeur der First Army Division in Fort Stewart, Georgia.
13
Nach der Verhaftung kam Elroy Doil unter der Beschuldigung, Kingsley und Nellie Tempone ermordet zu haben, im Dade-County-Gefängnis in Untersuchungshaft. Wie gesetzlich vorgeschrieben war, fand im benachbarten Metro Justice Building innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der Verhaftung ein Haftprüfungstermin statt. Dabei brauchte Doil sich nicht zur Schuldfrage zu äußern; dafür würde in zwei bis drei Wochen ein Anhörungstermin festgesetzt werden. Statt dessen beantragte ein Pflichtverteidiger routinemäßig seine Freilassung gegen Kaution, die ebenso routinemäßig abgelehnt wurde.
Doil interessierte sich kaum für diesen Vorgang, weigerte sich, mit seinem Pflichtverteidiger zu sprechen, und gähnte dem Richter ins Gesicht. Aber als ein Gerichtsdiener ihn am Arm packte, um ihn hinauszuführen, versetzte Doil ihm einen Schlag in den Magen, so daß der Mann zusammenklappte. Sofort stürzten sich zwei weitere Gerichtsdiener und ein Gefängniswärter auf Doil, überwältigten ihn, legten ihn in Ketten und schleiften ihn aus dem Saal. Draußen in der Zelle für Untersuchungshäftlinge schlugen sie weiter mit ihren Fäusten auf ihn ein, bis der Widerstandswille des hilflos Keuchenden gebrochen war.
Während die amtlichen Entscheidungen über den Fortgang des Verfahrens jetzt bei der Staatsanwaltschaft lagen, trug ein Team aus Leuten von der Spurensicherung und Kriminalbeamten der Mordkommission weiter Belastungsmaterial zusammen.
An Griff und Klinge des Bowiemessers, das Elroy Doil bei seiner Verhaftung in der Hand gehalten hatte, wurde Blut gefunden, das mit dem der beiden Ermordeten identisch war. Außerdem war Dr. Sanchez bereit, vor Gericht auszusagen, daß dieses durch charakteristische Rillen und Scharten identifizierbare Messer die Waffe sei, mit der Kingsley und Nellie Tempone ermordet worden waren.
Nach Auskunft von Dr. Sanchez war es jedoch nicht das Bowiemesser, mit dem die Ehepaare Frost, Urbina und Ernst getötet worden waren. Genauere Untersuchungen der Einstichwunden aus Clearwater und Fort Lauderdale lagen noch nicht vor, so daß bisher kein Vergleich möglich war.
Bei einer Besprechung mit Kriminalbeamten der Sonderkommission fügte die Gerichtsmedizinerin hinzu: »Das soll keineswegs heißen, Doil habe diese anderen Morde nicht verübt. Die Tatausführung läßt im Gegenteil auf ihn schließen. Aber er kann sich mehrere Bowiemesser gekauft haben, die Sie vielleicht finden, wenn Sie seinen Besitz durchsuchen.«
Zur Enttäuschung von Kriminalbeamten und Staatsanwälten, die gehofft hatten, jetzt auch alle früheren Fälle lösen zu können, fanden sich unter Doils spärlichen Besitztümern weder weitere Messer noch sonstiges Belastungsmaterial.
Im Fall Tempone wurde die Beweislage jedoch mit jedem Tag besser. Das Blut an Doils Kleidung und seinen Schuhen stammte von den beiden Ermordeten; auch das Blut an seinen Latexhandschuhen, die er offenbar getragen hatte, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, stimmte mit dem der Opfer überein. Die am Tatort sichergestellten Schuhabdrücke - einige mit Spuren des Blutes der Ermordeten - entsprachen den Sportschuhen, die Doil getragen hatte.