»Ich weiß, wer Sie sind«, wehrte Ainslie kühl ab. »Ich habe mich gefragt, was Sie hergeführt haben mag.«
Der Schriftsteller lächelte. »In meinem neuen Roman kommt eine Hinrichtung vor, deshalb wollte ich selbst eine erleben. Commissioner Ernst hat mir einen Platz besorgt.«
In diesem Augenblick tauchte Lieutenant Hambrick auf. »Sie brauchen nicht hier zu warten«, erklärte er Ainslie. »Kommen Sie, wir holen Ihre Dienstwaffe ab, und ich bringe Sie zu Ihrem Wagen zurück.« Ainslie nickte Jensen flüchtig zu und ging.
3
»Ich hab' gesehen, wie alle Lichter dunkler geworden sind«, sagte Jorge, »und mir gedacht, daß Animal jetzt wohl seine Ladung abkriegt.«
»Stimmt«, bestätigte Ainslie einsilbig.
Das waren die ersten Worte, die sie wechselten, seit sie vor zehn Minuten das Gefängnis verlassen hatten. Jorge fuhr den blauweißen Streifenwagen der Miami Police und lotste sie durch die Ausfahrtskontrollen beim Verlassen des Gefängnisses. Draußen kamen sie an den unvermeidlichen Demonstranten vorbei; einige wenige hielten noch immer brennende Kerzen in den Händen, aber die meisten verliefen sich bereits. Ainslie hatte bisher geschwiegen.
Das erbarmungslose Verfahren, durch das Doil zu Tode gekommen war, hatte ihn ziemlich mitgenommen. Andererseits war nicht zu leugnen, daß Doil eine gerechte Strafe erhalten hatte, da er, obwohl das nur Ainslie wußte, nicht nur die beiden Morde verübt hatte, für die er zum Tode verurteilt worden war, sondern mindestens zwölf weitere.
Ainslies Hand berührte seine Jackentasche, in die er die Kassette mit Doils Geständnis gesteckt hatte. Ob und wann die Tonbandinformationen freigegeben wurden, falls dies überhaupt der Fall war, mußten andere entscheiden. Ainslie würde seine Kassette Lieutenant Newbold übergeben; Police Department und Staatsanwaltschaft würden dann gemeinsam entscheiden, was mit ihr geschehen sollte.
»Ist Animal eigentlich...«, begann Jorge.
Ainslie unterbrach ihn. »Ich weiß nicht, ob wir ihn weiter Animal nennen sollten. Tiere töten nur aus Notwendigkeit. Doil hat aus...« Er machte eine Pause. Warum hatte Doil gemordet? Aus Vergnügen, in religiösem Wahn, aus innerem Zwang?
Schulterzuckend sagte er: »Aus Gründen, die wir nie erfahren werden.«
Jorge sah zu ihm herüber. »Haben Sie etwas rausgekriegt, Sergeant? Irgendwas, das Sie mir erzählen können?«
Ainslie schüttelte den Kopf. »Ich muß erst mit dem Lieutenant sprechen.«
Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett: 7.50 Uhr. Leo Newbold war vermutlich noch zu Hause. Ainslie griff nach dem Mobiltelefon und tippte die Nummer ein. Newbold meldete sich nach dem zweiten Klingeln.
»Ich hab' mir gedacht, daß Sie's sind«, sagte er im nächsten Augenblick. »Jetzt ist wohl alles vorbei, was?«
»Nun, Doil ist tot. Aber ich bezweifle sehr, daß damit alles vorbei ist.«
»Hat er eine Aussage gemacht?«
»Sie hat bestätigt, daß seine Hinrichtung gerechtfertigt war.«
»Das haben wir schon immer gewußt, aber diese Bestätigung erleichtert einen doch. Er hat also ein Geständnis abgelegt?«
Ainslie zögerte. »Ich habe einiges zu berichten, Sir. Aber was ich zu sagen habe, soll nicht morgen in der Zeitung stehen.«
»Da haben Sie recht«, gab der Lieutenant zu. »So vorsichtig sollten wir alle sein. Okay, nicht übers Mobiltelefon.«
»Falls mir genügend Zeit bleibt«, sagte Ainslie, »rufe ich Sie aus Jacksonville an.«
»Kann's kaum erwarten. Bis später, Malcolm.«
Ainslie schaltete das Mobiltelefon aus.
»Sie haben reichlich Zeit, zum Flughafen sind's nur knapp hundert Kilometer«, stellte Jorge fest. »Vielleicht können wir sogar noch frühstücken.«
Ainslie verzog das Gesicht. »Mir ist der Appetit gründlich vergangen.«
»Ich weiß, daß Sie mir nicht alles erzählen dürfen. Aber Doil hat mindestens einen Mord gestanden, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hat er Sie als Geistlichen behandelt?«
»Er wollt's tun. Und ich hab's bis zu einem gewissen Grad zugelassen.«
Jorge machte eine Pause, bevor er weitersprach. »Glauben Sie, daß Doil jetzt im Himmel ist? Oder gibt's wirklich eine Hölle mitsamt Fegefeuer, in der Satan regiert?«
»Dieser Gedanke macht Ihnen wohl Sorgen?« fragte Ainslie schmunzelnd.
»Nein. Mich interessiert nur Ihre Meinung - gibt es Himmel und Hölle?«
Man läßt seine Vergangenheit nie ganz hinter sich, dachte Ainslie. Er erinnerte sich an ähnliche Fragen von Gemeindemitgliedern, die ihn oft in ziemliche Verlegenheit gebracht hatten. Jetzt erklärte er Jorge: »Nein, ich glaube nicht mehr ans Paradies, und ich habe nie an die Hölle geglaubt.«
»Auch nicht an Satan?«
»Satan ist ebenso eine Fiktion wie Mickymaus - eine erfundene Gestalt aus dem Alten Testament. Bei Hiob ist er noch relativ harmlos, aber im zweiten Jahrhundert vor Christus haben die Essäer, eine jüdische Ordensgemeinschaft, ihn dämonisiert. Den können Sie vergessen.«
Nach seinem Ausscheiden aus dem Kirchendienst war Malcolm Ainslie jahrelang jeder Diskussion über Glaubensfragen ausgewichen, obwohl er wegen seines Buchs über vergleichende Religionswissenschaft manchmal als Experte um Rat gebeten wurde. Wie er wußte, galt Die Evolution des menschlichen Glaubens noch immer als Standardwerk. In letzter Zeit konnte er jedoch offener und ehrlicher über Religion sprechen, und hier saß Jorge neben ihm, der offenbar Rat suchte.
Raiford lag längst hinter ihnen; sie fuhren übers Land und hatten das bedrückende Gefängnis und seine Schlafstädte hinter sich gelassen. Heller Sonnenschein kündigte einen herrlichen Tag an. Unmittelbar vor ihnen begann eine vierspurige Fernstraße, die Interstate 10, die nach Jacksonville führte, wo Ainslie sein Flugzeug erreichen würde. Er freute sich bereits auf das Wiedersehen mit Karen und Jason und die bevorstehende Familienfeier.
»Darf ich Sie noch was fragen?« fragte Jorge.
»Schießen Sie los.«
»Ich habe mich immer gefragt, wie Sie ursprünglich Priester geworden sind.«
»Ich hatte nie damit gerechnet, einer zu werden«, antwortete Ainslie. »Mein Bruder wollte Priester werden. Dann ist er erschossen worden.«
»Oh...« Jorge war sichtlich betroffen. »Er ist ermordet worden?«
»So hat's die Justiz gesehen. Aber die tödliche Kugel ist für einen anderen bestimmt gewesen.«
»Wie ist das gekommen?«
»Das Ganze hat sich in einer Kleinstadt nicht weit nördlich von Philadelphia abgespielt. Dort sind Gregory und ich aufgewachsen... «
New Berlinville war Ende des vorigen Jahrhunderts zur Stadt erhoben worden. Außer mehreren Stahl- und Walzwerken gab es dort Erzbergwerke. Diese Kombination verschaffte den meisten Einheimischen Arbeit - auch Idris Ainslie, Gregorys und Malcolms Vater, der Bergmann war. Aber er verunglückte tödlich, als die Jungen noch sehr klein waren.
Gregory war nur ein Jahr älter als Malcolm, und die beiden waren unzertrennlich. Gregory, der für sein Alter recht kräftig war, hatte Spaß daran, seinen kleinen Bruder zu beschützen. Ihre Mutter Victoria heiratete nicht wieder, sondern zog ihre Söhne allein auf. Sie arbeitete als Hilfskraft, um ihre kleine Witwenrente aufzubessern, und verbrachte möglichst viel Zeit mit Gregory und Malcolm. Sie waren ihr ganzer Lebensinhalt, und ihre Söhne liebten sie.
Victoria Ainslie war eine tugendhafte Frau, eine gute Mutter und eine fromme Katholikin. Im Lauf der Jahre hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als einen ihrer Söhne als Geistlichen zu sehen. Gregory, der als Erstgeborener den Vortritt hatte, wurde mit seinem Einverständnis für den Priesterberuf bestimmt.
Mit acht Jahren war Gregory wie Russell Sheldon, sein bester Freund, Ministrant in der St. Columbkill Church. In vieler Beziehung stellten Gregory und Russell eine unwahrscheinliche, widersprüchliche Kombination dar. Als Gregory heranwuchs, war er ein großer, blonder, sportlicher, gutaussehender Junge, der von Natur aus warmherzig und offen war und die Kirche liebte - vor allem ihre prunkvollen Rituale. Russell war ein kleiner, stämmiger Bulldozer von einem Jungen mit einer Vorliebe für allerlei Streiche. Einmal versetzte er Gregorys Shampoo mit einem Haarfärbemittel, so daß sein Freund vorübergehend brünett war. Bei anderer Gelegenheit gab er eine Verkaufsanzeige für Malcolms geliebtes neues Fahrrad auf. Und er brachte in Gregorys und Malcolms Zimmern Playboy-Pinups an, wo sie ihre Mutter entdecken mußte.