Kurz nach Gregorys Beerdigung fragte Victoria ihren Sohn: »Ob Gott wohl gewußt hat, daß Gregory Priester werden wollte? Vielleicht hätte er ihn dann nicht zu sich genommen.«
Malcolm nahm ihre Hände. »Mom, vielleicht hat Gott gewußt, daß ich Gregory nachfolgen würde.«
Als Victoria überrascht aufsah, nickte Malcolm. »Russell und ich haben beschlossen, ins St. Vladimir Seminary zu gehen. Wir haben lange darüber diskutiert. Ich werde Gregorys Platz einnehmen.«
Und so geschah es.
Das Priesterseminar in Philadelphia, in dem Malcolm Ainslie und Russell Sheldon die folgenden sieben Jahre verbrachten, war ein alter, aber renovierter Bau aus der Zeit um die Jahrhundertwende, der heitere Gelassenheit und Gelehrsamkeit ausstrahlte - eine Atmosphäre, in der die beiden jungen Männer sich sofort heimisch fühlten.
Malcolms Entschluß, die Priesterweihe anzustreben, bedeutete nie ein Opfer für ihn. Als er ihn faßte, war er zufrieden und ausgeglichen. Malcolm glaubte an Gott, die Göttlichkeit Jesu und die katholische Kirche, die Ordnung und Disziplin in diese anderen Überzeugungen brachte - in dieser Reihenfolge. Erst viele Jahre später sollte er feststellen, daß von einem geweihten Priester erwartet wurde, daß er diese Reihenfolge subtil veränderte, bis man mit Matthäus 19,30 sprechen konnte: »Aber viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.«
Die Seminarausbildung, deren Schwerpunkte Philosophie und Theologie waren, entsprach einem Collegestudium, an das sich ein dreijähriges Theologiestudium anschloß, das zur Promotion führte. Nachdem die Patres Malcolm Ainslie und Russell Sheldon ihre Ausbildung mit fünfundzwanzig beziehungsweise sechsundzwanzig Jahren abgeschlossen hatten, bekamen sie die ersten Vikarstellen zugewiesen - Malcolm in der St. Augustus Church in Pottstown, Pennsylvania, und Russell in der St. Peter's Catholic Church in Reading. Die beiden Pfarreien gehörten zur selben Erzdiözese und lagen nur dreißig Kilometer auseinander. »Wir besuchen uns sicher ständig«, sagte Malcolm unbekümmert, und Russell stimmte ihm zu. Aber wegen der Arbeitsüberlastung aller katholischen Geistlichen, die weltweit zunahm, trafen sie sich nur selten und hatten es immer eilig, wieder wegzukommen. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem eine Art Naturkatastrophe sie nach einigen Jahren erneut eng zusammenbrachte.
»Und das«, erklärte Ainslie Jorge, »ist so ziemlich die ganze Geschichte, wie ich Priester geworden bin.«
Vor einigen Minuten war der blauweiße Streifenwagen aus Miami durch Jacksonville gerollt. Jetzt lag der Flughafen direkt vor ihnen.
»Aber wie kommt's, daß Sie die Kirche verlassen haben und ein Cop geworden sind?« fragte Jorge.
»Das ist nicht kompliziert«, antwortete Ainslie. »Ich habe meinen Glauben verloren.«
»Aber wie haben Sie ihn verloren?« faßte Jorge nach.
Ainslie lachte. »Das ist kompliziert. Und ich muß zusehen, daß ich mein Flugzeug erreiche.«
4
»Ich glaube kein Wort davon«, sagte Leo Newbold. »Der Hundesohn hat sich vermutlich für besonders schlau gehalten, wenn er einen falschen Hinweis hinterläßt, an dem wir uns die Zähne ausbeißen.«
Das war die Reaktio n des Lieutenant, als Malcolm Ainslie ihm an einem Kartentelefon auf dem Jacksonville Airport stehend berichtete, Elroy Doil habe zwar sieben Doppelmorde gestanden, aber den Mord an Commissioner Gustav Ernst und seiner Frau Eleanor strikt geleugnet.
»Die Beweislast gegen Doil ist erdrückend«, fuhr Newbold fort. »Im Mordfall Ernst hat praktisch alles mit den früheren Morden übereingestimmt, und weil wir viele Informationen zurückgehalten haben, wäre außer Doil niemand imstande gewesen, eine in seine Serie passende Tat zu verüben. Okay, ich weiß, daß Sie gewisse Zweifel hegen, Malcolm, und respektiere sie, aber diesmal täuschen Sie sich, glaube ich.«
Ainslie gab sich nicht so rasch geschlagen. »Das verdammte Kaninchen, das der oder die Täter neben den Ernsts zurückgelassen haben, hat mich von Anfang an gestört. Es hat nicht zu den übrigen Hinweisen auf die Offenbarung gepaßt. Es paßt weiterhin nicht dazu.«
»Aber das ist alles, was Sie haben«, stellte Newbold fest. »Richtig?«
»Das ist alles«, bestätigte Ainslie seufzend.
»Nun, wenn Sie zurückkommen, sollten Sie sich mit den ersten Morden befassen, die Doil gestanden hat. Wie haben die Leute gleich wieder geheißen?«
»Ikei - aus Tampa.«
»Yeah, und die Esperanzas sind auch einen weiteren Blick wert. Aber das darf nicht lange dauern, denn wir haben schon wieder zwei neue Morde aufzuklären. Aus meiner Sicht ist der Mordfall Ernst abgeschlossen.«
»Was ist mit der Kassette mit Doils Aussage? Soll ich sie Ihnen aus Toronto schicken?«
»Nein, bringen Sie sie selbst mit. Wir lassen Kopien und eine Abschrift anfertigen und entscheiden dann, was damit geschehen soll. Und jetzt wünsche ich Ihnen eine schöne Reise mit ihrer Familie, Malcolm. Die haben Sie sich ehrlich verdient.«
Ainslie hatte reichlich Zeit, um bei Delta Airlines für seinen Flug nach Atlanta zum Weiterflug nach Toronto einzuchecken. Da die Maschine nicht voll besetzt war, hatte er in der Economy-Klasse drei Sitze für sich allein, lehnte sich entspannt zurück und genoß den Luxus, ungestört zu sein.
Während er versuchte, ein Nickerchen zu machen, beschäftigten seine Gedanken sich weiter mit Jorges Frage: Aber wie haben Sie Ihren Glauben verloren?
Es war unmöglich, darauf eine einfache Antwort zu geben, denn dieser Prozeß war fast unmerklich abgelaufen, weil verschiedene Einflüsse ihn über einen längeren Zeitraum hinweg subtil auf einen anderen Kurs gebracht hatten.
Angefangen hatte alles während seines siebenjährigen Studiums im St. Vladimir Seminary. Pater Irwin Pandolfo, ein Jesuit und einer seiner Professoren, hatte den zweiundzwanzigj ährigen Malcolm gebeten, ihm bei den Recherchen für sein Buch über die großen Weltreligionen zu helfen. Malcolm hatte bereitwillig zugesagt und zwei Jahre lang jede freie Minute für das Buchprojekt geopfert. Als Die Evolution des menschlichen Glaubens erscheinen sollte, ließ sich kaum mehr feststellen, was Pandolfo und was Ainslie dazu beigetragen hatten, so daß der Professor sich fairerweise zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloß. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Malcolm, und werden als Mitverfasser genannt. Keine Diskussion. Beide Namen in gleicher Schriftgröße, aber meiner kommt als erster. Einverstanden?«
Malcolm war so überwältigt, daß ihm ausnahmsweise die Worte fehlten.
Das Buch brachte beiden Verfassern viel Lob ein. Aber es bewirkte auch, daß Malcolm, der jetzt eine Autorität in bezug auf die Ursprünge aller Religionen war, gewisse Aspekte der einen Religion, der er sein Leben widmen wollte, in Frage zu stellen begann.
Ainslie erinnerte sich an eine Gelegenheit - an ein Gespräch mit Russell Sheldon gegen Ende ihrer Seminarausbildung. Malcolm hatte von einem Skriptum aufgesehen und gefragt: »Wer hat einmal geschrieben: >Ein wenig Gelehrsamkeit ist eine gefährliche Sache<?«
»Papst Alexander.«
»Er hätte auch schreiben können: Viel Gelehrsamkeit ist eine gefährliche Sache, vor allem für zukünftige Priester.<«
Russell brauchte nicht zu fragen, was Malcolm meinte. Im Rahmen ihres Theologiestudiums hatten sie sich auch mit der Geschichte des Alten und des Neuen Testaments beschäftigt. In neuerer Zeit - vor allem seit den dreißiger Jahren - hatten Historiker und Theologen neue Erkenntnisse über die Bibel gewonnen.
»Die Bibel ist keine >Heilige Schrift< oder das >Wort Gottes<, wie religiöse Eiferer behaupten. Wer das glaubt, versteht einfach nicht - oder will es einfach nicht wissen -, wie die Bibel entstanden ist.«