»Vermindert das etwa deinen Glauben?«
»Nein, weil wahrer Glaube nicht auf der Bibel basiert. Er beruht auf unserem Instinkt, daß alles um uns herum nicht zufällig, sondern durch einen Akt Gottes entstanden ist -allerdings nicht unbedingt des in unserer Bibel geschilderten Gottes.«
Die beiden diskutierten über eine weitere allen Theologen bekannte Tatsache - daß die ersten bekannten Aufzeichnungen über Jesus fünfzig Jahre nach seinem Tod entstanden waren: im ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher, dem ältesten Buch des Neuen Testaments. Selbst die vier Evangelien - das des Markus war das älteste - waren erst in den Jahren siebzig bis hundertzehn nach Christus niedergeschrieben worden.
»Wir wissen das«, stellte Malcolm fest, »aber Laien werden diese Tatsachen über die Bibel von den Kirchen noch immer vorenthalten. Natürlich steht außer Frage, daß Jesus gelebt hat und gekreuzigt worden ist; das gehört zur römischen Geschichte. Aber alle Geschichten über ihn - die jungfräuliche Geburt, der Stern von Bethlehem, die Hirten und der Engel des Herrn, die Weisen aus dem Morgenland, die Wunder, das letzte Abendmahl und sogar die Auferstehung - sind nur Legenden, die fünfzig Jahre lang mündlich überliefert worden sind. Was ihre Genauigkeit betrifft...«
Malcolm machte eine Pause. »Überleg maclass="underline" Wie lange ist's her, daß Präsident Kennedy in Dallas ermordet worden ist?«
»Fast zwanzig Jahre.«
»Und die ganze Welt ist Zeuge gewesen - Fernsehen, Radio, Presse, das Zapruder-Tonband, unzählige Wiederholungen, dann die Warren-Kommission.«
Russell nickte. »Aber trotzdem herrscht Uneinigkeit darüber, wie's passiert ist und wer's getan hat.«
»Genau! Stell dir neutestamentarische Zeiten ohne Kommunikationssysteme, offenbar auch ohne schriftliche Aufzeichnungen vor, dann kannst du dir ausmalen, welche Ausschmückungen und Verfälschungen es über fünfzig Jahre hinweg gegeben haben muß.«
»Du glaubst diese Geschichten über Jesus also nicht?«
»Ich habe meine Zweifel daran, aber das spielt keine Rolle. Jesus hat - ob durch Legenden oder Tatsachen - die Weltgeschichte mehr als jeder andere beeinflußt und die reinste, weiseste Lehre aller Zeiten hinterlassen.«
»Aber ist er Gottes Sohn gewesen?« fragte Russell weiter. »Ist er göttlich gewesen?«
»Ich bin bereit, daran zu glauben. Ja, daran glaube ich noch immer.«
»Ich auch.«
Aber glaubten sie das wirklich? Schon damals hegte zumindest Malcolm leichte Zweifel.
Kurze Zeit später stand Malcolm bei einer Diskussion über Grundsätze der katholischen Lehre anläßlich einer Visite des Erzbischofs auf und wollte wissen: »Wie kommt es, Euer Eminenz, daß unsere Kirche ihre Gemeindemitglieder niemals über neue Erkenntnisse der Bibelforschung und das neue Licht aufklärt, das sie auf Leben und Zeit Jesu werfen?«
»Weil das den Glauben vieler Katholiken untergraben könnte«, antwortete der Erzbischof rasch. »Theologische Debatten sollten wir Menschen mit den nötigen intellektuellen Voraussetzungen überlassen.«
»Sie halten also nichts von Johannes 8, 32?« fragte Malcolm ihn. »>Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.<«
Der Erzbischof antwortete leicht gereizt: »Mir wär's lieber, junge Priester würden sich auf Römer 5,19 konzentrieren: >So werden durch eines Gehorsam viele zu Gerechten.««
»Oder vielleicht auf Epheser 6, 5, Euer Eminenz«, antwortete Malcolm schlagfertig. »>Ihr Knechte, seid gehorsam euren leiblichen Herren.<«
Schallendes Gelächter erfüllte die Aula. Sogar der Erzbischof lächelte.
Nach ihrer Seminarausbildung gingen Malcolm und Russell als Vikare ihre eigenen Wege - auch in bezug auf ihre Ansichten über Religion und Alltagsprobleme, die sich im Lauf der Zeit wandelten.
In der St. Augustus Church in Pottstown war Malcolm der Vertreter von Pater Andre Quäle, der siebenundsechzig Jahre alt war, an einem Lungenemphysem litt, das Pfarrhaus nur selten verließ und seine Mahlzeiten oft allein einnahm.
»Also schmeißt eigentlich du den Laden«, stellte Russell einmal fest, als er bei seinem Freund zum Abendessen eingeladen war.
»Ich genieße weniger Freiheiten als du glaubst«, antwortete Malcolm. »Der alte Eisenarsch hat mir schon zwei Verweise erteilt.«
»Unser Herr und Meister, Bischof Sanford?«
Malcolm nickte. »Einige Leute aus der hiesigen alten Garde haben sich über zwei meiner Predigten beschwert. Sanford ist stinksauer gewesen.«
»Worüber hast du gepredigt?«
»Einmal über Übervölkerung und Geburtenkontrolle, ein andermal über Homosexualität, Kondome und AIDS.«
Russell lachte schallend. »Damit hast du allerdings einen empfindlichen Nerv getroffen.«
»Offenbar. Aber manche der bekannten Tatsachen, die unsere Kirche hartnäckig ignoriert, regen mich auf. Gut, persönlich kann ich mit Homosexualität nichts anfangen, aber nach Überzeugung bekannter Mediziner und Wissenschaftler ist Homosexualität hauptsächlich genbedingt, und diese Leute könnten sich nicht ändern, selbst wenn sie es wollten.«
Russell nickte verständnisvoll. »Also fragst du: >Wer hat sie so erschaffen?< Und wenn Gott uns alle erschaffen hat - hat er dann nicht auch die Homosexuellen gemacht? Vielleicht sogar für einen Zweck, den wir nicht verstehen?«
»Unser Standpunkt in bezug auf Kondome macht mich noch wütender«, sagte Malcolm. »Wie soll ich vor meine Gemeinde treten und ihr verbieten, etwas zu gebrauchen, das dazu beitragen kann, die Auswirkungen von AIDS zu verhindern? Aber die Kirche will nicht hören, was ich denke. Sie will nur, daß ich den Mund halte.«
»Hast du vor, ihn zu halten?«
Malcolm schüttelte langsam den Kopf. »Wart nur ab, worüber ich kommenden Sonntag predigen werde.«
Die Sonntagsmesse um 10.30 Uhr begann mit einer Überraschung. Wenige Minuten zuvor trat Bischof Sanford unangemeldet ein. Der weißhaarige Kirchenfürst, der sich auf einen Stock stützte, wurde von seinem Sekretär begleitet. Er stand in dem Ruf, strikt auf Disziplin zu achten und ein linientreuer Anhänger des Vatikans zu sein.
Vom Altar aus hieß Malcolm den Bischof öffentlich willkommen. Innerlich empfand er zunehmende Beklemmung. Dieser überfallartige Besuch erschreckte ihn, weil er wußte, daß seine Predigt Sanford mißfallen würde. Malcolm hatte damit gerechnet, daß der Bischof nachträglich davon erfahren würde, und war auf einen Rüffel gefaßt, aber Sanford als Zuhörer zu haben, war etwas völlig anderes. Trotzdem konnte und wollte er seine kritische Predigt über das Thema »Die Bibel als unerschütterliches Fundament unseres Glaubens: Wahn oder Wirklichkeit?« nicht mehr abändern.
Als die Geistlichen nach der Messe am Kirchenportal standen, um die Gemeindemitglieder mit einem Händedruck zu verabschieden, hörte Malcolm viel Lob über seine couragiert bibelkritische Predigt. »Höchst interessant, Pater«... »Das habe ich alles zum erstenmal gehört«... »Sie haben recht, das sollte öfter angesprochen werden.«
Bischof Sanford lächelte liebenswürdig, während Gemeindemitglieder ihm die Hand schüttelten. Aber sobald alle gegangen waren, machte er eine gebieterische Bewegung mit seinem Stock und nahm Malcolm beiseite.
Die Stimme des Bischofs klang eisig und schneidend scharf, als er anordnete: »Pater Ainslie, in dieser Kirche haben Sie ab sofort Predigtverbot. Ich erteile Ihnen einen neuerlichen Verweis, und Sie erhalten demnächst Anweisungen über Ihre Zukunft. Bis dahin rate ich Ihnen, um Demut, Klugheit und Gehorsam zu beten - Eigenschaften, die Ihnen offenbar fehlen und die Sie dringend benötigen.« Dann erteilte er Malcolm mit strenger Miene seinen Segen. »Möge der Herr deine Buße leiten und dich auf tugendhaftere Pfade führen.«
Als Malcolm abends mit Russell telefonierte, schilderte er ihm diesen Vorfall und fügte hinzu: »Wir werden von zu vielen säuerlichen alten Männern regiert.«