Die Maschine der Delta Airlines setzte weich in Atlanta auf und rollte zum Flugsteig. Nun hatte er nur noch den zweistündigen Flug nach Toronto vor sich.
Malcolm wandte sich von seinen Erinnerungen an die Vergangenheit ab und dachte mit Freude an die bevorstehenden angenehmen Urlaubstage.
5
Als Malcolm die Paß- und Zollkontrolle auf dem Flughafen Toronto passierte, sah er sich mit einem Schild mit dem Namen AINSLIE konfrontiert, das ein livrierter Chauffeur hochhielt.
»Mr. Ainslie aus Miami?« fragte der junge Mann freundlich, als Malcolm vor ihm stehenblieb.
»Ja, aber ich habe nicht damit gerechnet, daß... «
»Ich bin in General Grundys Auftrag hier. Der Wagen steht gleich draußen. Darf ich Ihren Koffer nehmen, Sir?«
George und Violet Grundy, Karens Eltern, wohnten in Scarborough Township am Ostrand von Groß-Toronto. Die Fahrt dorthin dauerte eineinviertel Stunden - etwas länger als sonst, weil letzte Nacht viel Schnee gefallen war, der den Verkehr auf dem Highway 401 noch immer behinderte. Der Himmel war bleigrau, die Temperatur lag um null Grad. Wie viele Einwohner Floridas, die im Winter nach Norden kamen, war Malcolm viel zu leicht angezogen. Falls Karen ihm nicht ein paar warme Sachen eingepackt hatte, würde er sich Winterkleidung kaufen oder leihen müssen.
Der Empfang im bescheidenen Vorstadthaus der Grundys war dagegen äußerst warm und herzlich. Sobald die Limousine vor dem Haus hielt, flog die Haustür auf, und die Familie strömte ins Freie, um ihn zu begrüßen - Karen voraus, Jason dicht hinter ihr. Karen küßte ihn, umarmte ihn und flüsterte ihm dabei zu: »Wie schön, daß du da bist«, was unerwartet und beruhigend war. Jason zupfte an seinem Ärmel und rief: »Daddy! Daddy!« Malcolm zog ihn mit einem Arm an sich und gratulierte ihm herzlich zum Geburtstag.
Aber die drei blieben nicht lange allein. Karens jüngere Schwester Sofia, groß, schlank und sexy, drängte sich zwischen sie, um Malcolm mit einem herzlichen Kuß zu begrüßen. Ihr Mann Gary Moxie, ein Börsenmakler aus Winnipeg, schüttelte Malcolm die Hand und versicherte ihm: »Die ganze Familie ist stolz auf dich und deine Arbeit. Du mußt uns viel davon erzählen, solange du hier bist.« Die beiden Töchter der Moxies, die zwölfjährige Myra und die zehnjährige Susan, beteiligten sich ebenfalls an dieser lautstark freundschaftlichen Begrüßung.
Violet Grundy, eine elegante, mütterliche Erscheinung, umarmte ihren Schwiegersohn als nächste. »Wir sind alle glücklich, daß du kommen konntest«, versicherte sie ihm lächelnd. »Das bißchen Verspätung spielt keine Rolle; wichtig ist nur, daß du da bist.«
Als die anderen sich abwandten, um ins Haus zurückzugehen, legte George Grundy, weißhaarig, aufrecht und mit fünfundsiebzig kein Gramm übergewichtig, Malcolm einen Arm um die Schultern. »Gary hat recht, wir sind stolz auf dich. Manchmal vergessen die Leute, wie wichtig es ist, als erstes seine Pflicht zu tun; daran denken heutzutage so wenige.« George senkte seine Stimme. »Ich habe allen - besonders Karen - einen kleinen Vortrag über dieses Thema gehalten.«
Ainslie lächelte, denn diese vertrauliche Mitteilung erklärte vieles. Karen bewunderte ihren Vater, und seine Worte hatten offenbar nachhaltig gewirkt. »Nett von dir«, sagte er dankbar. »Und alles Gute zum Geburtstag!«
Brigadegeneral George Grundy hatte im Zweiten Weltkrieg als Berufssoldat mit der kanadischen Armee in Europa gekämpft, war Tapferkeitsoffizier geworden, hatte schwere Kämpfe überlebt und war mit dem Military Cross ausgezeichnet worden. Später hatte er am Koreakrieg teilgenommen. Seit er mit fünfundfünfzig in den Ruhestand getreten war, hielt er in Colleges Vorträge über internationale Beziehungen.
»Komm, wir gehen rein, bevor du hier draußen zum Eiszapfen wirst«, sagte George Grundy. »Für uns beide ist ein volles Programm geplant.«
Georges und Jasons doppelter Geburtstag wurde den ganzen Tag lang gefeiert. Zum Abendessen erschienen weitere elf Gäste, so daß das bescheidene Heim der Grundys mit zwanzig Personen überfüllt war. Zu den Neuankömmlingen gehörte Karens älterer Bruder Lindsay aus Montreal, der sich nicht eher hatte freimachen können. Mit ihm kamen seine Frau Isabel, sein erwachsener Sohn Owen und Owens Frau Yvonne. Die übrigen sieben Gäste waren alte Freunde des Ehepaars Grundy.
Bei dieser Geburtstagsfeier stand Malcolm ganz unerwartet im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. »Als ob man einen richtigen Fernsehdetektiv ausfragen könnte«, sagte die zwölfjährige Myra, nachdem sie ihn mit Fragen bombardiert hatte.
Jason setzte sich plötzlich hellwach auf. »Mein Dad arbeitet viel besser als diese Kerle im Fernsehen.«
Andere fragten nach der Hinrichtung, der Malcolm an diesem Morgen beigewohnt hatte, nach den Morden, die der Täter verübt hatte, und wie sie aufgeklärt worden waren. Malcolm beantwortete alle Fragen so aufrichtig wie möglich, ließ aber sein letztes Gespräch mit Elroy Doil unerwähnt.
»Ein Grund für unser Interesse«, sagte George Grundy erklärend, »ist die erschreckende Zunahme von Gewalttaten bei uns in Kanada. Früher hat man aus dem Haus gehen und sich sicher fühlen können, aber das ist längst vorbei. Jetzt sind wir fast so schießwütig wie ihr in den Staaten.« Die anderen murmelten zustimmende Worte.
Als sich eine Diskussion über Mordfälle entwickelte, erläuterte Malcolm, daß die meisten Mörder gefaßt wurden, weil sie Fehler machten oder sich nicht bewußt waren, welche Fahndungsmöglichkeiten die Polizei hatte.
»Eigentlich«, sagte Sofia Moxie, »müßten sie durch die Flut an Informationen - in Zeitungen, in der Literatur und im Fernsehen - über Verbrechen und ihre Bestrafung wissen, wie schlecht ihre Chancen stehen.«
»Du würdest's wissen«, stimmte Malcolm zu. »Aber die Mörder, mit denen wir es zu tun haben, sind oft jung und nicht besonders gut informiert.«
»Vielleicht sind sie's nicht, weil sie nicht viel lesen«, meinte Owen Grundy. Er war schlank und drahtig, ein Architekt mit einer Vorliebe für Ölmalerei.
Malcolm nickte. »Viele von ihnen lesen nie. Manche können wahrscheinlich nicht mal lesen.«
»Aber sie sehen bestimmt fern«, warf Myra ein. »Und Fernsehverbrecher werden geschnappt.«
»Richtig«, bestätigte Malcolm. »Aber im Fernsehen werden Verbrecher als große Helden hingestellt. Sie fallen auf, und das möchten Jugendliche - vor allem aus unterprivilegierten Familien - auch gern. Die Konsequenzen zeigen sich dann später, meist zu spät.«
Zu Malcolms Überraschung befürworteten die meisten Anwesenden die Todesstrafe für Mord, selbst bei Verbrechen aus Leidenschaft. Der in den Vereinigten Staaten zu beobachtende Meinungsumschwung schien nun auch Kanada zu erfassen, wo die Todesstrafe 1976 abgeschafft worden war. Isabel Grundy, eine Physiklehrerin mit burschikos nüchterner Art, sprach sich besonders vehement dafür aus. »Ich bin für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Manche Leute behaupten, sie wirke nicht abschreckend, aber der gesunde Menschenverstand sagt einem das Gegenteil. Außerdem sind die Hingerichteten meist der Abschaum der Menschheit. Ich weiß, daß es nicht politisch korrekt ist, das zu sagen, aber es ist trotzdem wahr!«
Aus Interesse fragte Malcolm: »Für welche Hinrichtungsart würdest du plädieren?«
»Galgen, elektrischer Stuhl, Giftspritze - mir ist's egal, wenn wir diese Leute nur loswerden.«
Danach herrschte für kurze Zeit verlegenes Schweigen, weil Isabel sich in Rage geredet hatte. Trotzdem fiel Malcolm auf, daß niemand ihr widersprach.
Am nächsten Morgen machten Karen, Malcolm und Jason in Scarborough einen Spaziergang am Seeufer. Von hohen Klippen aus konnten sie den Ontariosee überblicken, obwohl der Nachbarstaat New York, der etwa hundertfünfzig Kilometer entfernt war, außer Sichtweite blieb. Nachts hatte es wieder geschneit, und das Trio lieferte sich eine Schneeballschlacht. Nach vielen Versuchen fand einer von Jasons Schneebällen endlich sein Zieclass="underline" Malcolms Kopf. »Wenn wir in Miami doch auch Schnee hätten!« rief der Kleine jubelnd.