Sein Ausbruch ging weiter, bis Newbold plötzlich ausrief: »Halt!« Ainslie drückte die Pausentaste. Zwischen den Glaswänden, die das Büro des Lieutenants umschlossen, herrschte wieder Stille.
»Jesus! Das klingt so gottverdammt wahr.« Newbold sprang auf und ging kurz vor seinem Schreibtisch auf und ab, bevor er sich erkundigte: »Wie lange hat Doil noch zu leben gehabt, als er das alles gesagt hat?«
»Ungefähr zehn Minuten. Nicht wesentlich mehr.«
»Ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht... Ich habe ihm anfangs kein Wort glauben wollen... Aber wer mit dem Tod vor Augen...« Der Lieutenant starrte Ainslie an. »Glauben Sie, was er erzählt hat?«
Ainslie antwortete zurückhaltend. »Ich habe wegen des einen Falls schon immer Zweifel gehabt, deshalb...« Den Rest ließ er ungesagt.
»Deshalb fällt's Ihnen leichter, Doil zu glauben«, ergänzte Newbold seine Antwort.
Malcolm Ainslie schwieg. Mehr gab es dazu eigentlich nicht zu sagen.
»Okay, hören wir uns den Rest an«, entschied Newbold.
Ainslie ließ das Tonband weiterlaufen.
Er hörte, wie er Doil fragte: Alle diese Morde - die vierzehn, die Sie zugeben -, bereuen Sie die?
»Zum Teufel mit denen!... Sie sollen mir die anderen vergeben, an denen ich nicht schuld bin!«
»Er ist geistesgestört«, sagte Newbold. »Beziehungsweise gewesen.«
»Das habe ich auch gedacht; ich denke es noch jetzt. Aber auch Geistesgestörte lügen nicht ständig.«
»Er ist ein pathologischer Lügner gewesen«, gab Newbold zu bedenken.
Sie schwiegen wieder, als Ainslie Doil erklärte: »... ein Geistlicher könnte Ihnen keine Absolution erteilen, bevor Sie alles bereuen - und ich bin kein Priester.«
Danach war plötzlich Lieutenant Hambricks Stimme zu hören, die Ainslie aufforderte: »Sie wissen noch immer genug, um etwas für ihn zu tun... Also tun Sie's!«
Newbold ließ Ainslie nicht aus den Augen, als seine Tonbandstimme Foucaulds Gebet der Hingabe rezitierte, das Doil Satz für Satz wiederholte. Der Lieutenant fuhr sich sichtlich bewegt mit einer Hand übers Gesicht und sagte danach leise: »Sie sind ein guter Kerl, Malcolm.«
Ainslie stellte das Gerät ab und spulte das Band zurück.
Dann saß Newbold stumm an seinem Schreibtisch und wog offensichtlich seine bisherige Meinung gegen das eben Gehörte ab. Nach einiger Zeit sagte er: »Sie haben die Sonderkommission geleitet, Malcolm, daher ist das eigentlich noch immer Ihr Fall. Was schlagen Sie vor?«
»Wir überprüfen alles, was Doil behauptet hat - die Geldklammer mit dem Monogramm, den Mord an dem Ehepaar Ikei und das Messer, das er in einem Grab zurückgelassen haben will. Ich setze Ruby Bowe darauf an - sie versteht sich auf solche Nachforschungen. Danach wissen wir, wieviel Doil gelogen hat - wenn er überhaupt gelogen hat.«
»Und was passiert«, fragte Newbold, »wenn Doil ausnahmsweise nicht gelogen hat?«
»Dann haben wir keine andere Wahl. Wir sehen uns den Fall Ernst noch mal an.«
Der Lieutenant machte ein mürrisches Gesicht. In der Polizeiarbeit gab es kaum etwas Frustrierenderes als die Wiederaufnahme eines bereits abgeschlossenen Mordfalls, den jedermann für gelöst hielt - vor allem eines von den Medien so aufgebauschten sensationellen Falls.
»Einverstanden«, sagte Newbold zuletzt. »Ruby soll loslegen. Wir müssen's wissen.«
7
»Meinetwegen überprüfen Sie diese Angaben in beliebiger Reihenfolge, Detective«, sagte Ainslie zu Ruby Bowe. »Aber irgendwann müssen Sie auch nach Tampa.«
Es war kurz nach sieben Uhr am Morgen nach Ainslies Besprechung mit Lieutenant Newbold, und Bowe saß auf einem Stuhl neben Ainslies Schreibtisch. Am Vorabend hatte er ihr ein Tonbandgerät mit Kopfhörer mitgegeben und sie aufgefordert, sich die Aufnahme aus dem Florida-State-Gefängnis zu Hause anzuhören. Morgens hatte sie ihm das Gerät mit deprimiertem Kopfschütteln zurückgegeben. »Schlimm, wirklich schlimm. Ich habe die halbe Nacht wach gelegen. Aber ich hab's gespürt. Ich habe die Augen zugemacht und bin dabeigewesen.«
»Sie haben also gehört, was Doil gesagt hat und was überprüft werden muß?«
»Ich habe mir alles notiert.« Bowe zeigte Ainslie ihr Notizbuch, in dem sämtliche Punkte standen.
»Schön, Sie können anfangen«, erklärte er ihr. »Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«
Ruby Bowe ging, und Ainslie wandte sich dem Papierkram auf seinem Schreibtisch zu, ohne zu ahnen, wie wenig Zeit er haben würde, um ihn aufzuarbeiten.
Der Anruf unter der Notrufnummer 911 wurde in der Nachrichtenzentrale der Miami Police um 7.32 Uhr registriert.
Eine Polizeibeamtin meldete sich: »Notruf neuneinseins, was kann ich für Sie tun?« Gleichzeitig erschienen auf einem Anzeigefeld über ihrem Computer die Nummer des Anschlusses, von dem aus angerufen wurde, und der Name T. DAVANAL.
Eine atemlose Frauenstimme: »Schicken Sie die Polizei zur
2801 Brickell Avenue gleich östlich der Viscaya Street. Mein Mann ist angeschossen worden.«
Während die Anruferin sprach, tippte die Beamtin ihre Angaben ein und schickte sie mit einer F-Taste zu einer Dispatcherin in einer anderen Abteilung der Zentrale hinüber.
Die Dispatcherin reagierte prompt, weil sie wußte, daß die angegebene Adresse in Zone 74 lag. Auf ihrem Bildschirm hatte sie bereits eine Liste der verfügbaren Streifenwagen mit ihren Nummern und Standorten. Sie wählte einen aus und rief ihn über Funk: »Einssiebenvier.«
Als Streifenwagen 174 sich meldete, sendete die Dispatcherin erst einen lauten Piepston, der eine dringende Nachricht ankündigte. Dann sagte sie ins Mikrofon: »Dreidreißig in der 2801 Brickell Avenue, östlich der Viscaya Street.« Die »3« bedeutete einen Notfall mit Blinklicht und Sirene, die »30« bezeichnete einen gemeldeten Schußwaffengebrauch.
»QSL. Ich bin ganz in der Nähe im Alice Wainwright Park.«
Während die Dispatcherin sprach, winkte sie Harry Clemente, den Sergeant vom Dienst, zu sich heran. Sie zeigte auf die Adresse auf ihrem Bildschirm. »Klingt irgendwie bekannt. Sind das wirklich die Leute, die ich meine?«
Clemente beugte sich nach vorn, dann sagte er: »Falls Sie die Davanals meinen, haben Sie gottverdammt recht!«
»Das ist ein Dreidreißiger.«
»Scheiße!« Der Wachleiter las die übrigen Informationen. »Okay, ich bleibe in der Nähe.«
Die Beamtin, die den Notruf entgegengenommen hatte, sprach weiter mit der Anruferin. »Ein Streifenwagen ist zu Ihnen unterwegs. Lassen Sie mich bitte Ihren Familiennamen verifizieren. Ist die korrekte Schreibung Davanal?«
»Ja, ja«, sagte die Anruferin ungeduldig. »Das ist der Name meines Vaters. Ich heiße Maddox-Davanal.«
Aus der berühmten Familie Davanal? hätte die Polizeibeamtin am liebsten gefragt. Statt dessen verlangte Sie: »Ma'am, bleiben Sie bitte am Apparat, bis der Streifenwagen da ist.«
»Das kann ich nicht. Ich bin sehr beschäftigt.« Ein Klicken zeigte, daß die Anruferin aufgelegt hatte.
Um 7.39 Uhr wurde die Dispatcherin von Streifenwagen 174 über Funk gerufen. »Hier ist jemand erschossen worden. Bitte ein Ermittlerteam der Mordkommission auf Tac One.«
»QRX« - das Kürzel für »Bitte warten«.
Malcolm Ainslie saß an seinem Schreibtisch und hatte sein Handfunkgerät eingeschaltet, als Streifenwagen 174 die Mordkommission verlangte. Er sah von seinen Akten auf und nickte Jorge zu, er solle sich melden.
»Okay, Sarge.« Rodriguez schaltete sein eigenes Funkgerät ein und meldete der Dispatcherin: »Dreizehnelf ruft Wagen einssiebenvier auf Tac One.« Dann schaltete er auf den für die Mordkommission reservierten Kanal Tac One um. »Einssiebenvier, hier dreizehnelf. QSK?«