»Dreizehnelf, wir haben einen Toten in der 2801 Brickell Avenue. Ein möglicher Einunddreißiger.«
Ainslie hob ruckartig den Kopf, als er diese Adresse und den Zahlencode für »Mord« hörte. Er ließ allen Papierkram liegen, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Dann nickte er Jorge zu, der ins Funkgerät sagte: »Einssiebenvier, wir sind zu Ihnen unterwegs. Sichern Sie den Tatort. Fordern Sie bei Bedarf weitere Unterstützung an.« Er schob sein Funkgerät in die Gürtelhalterung und fragte: »Ist das die Adresse dieser stinkreichen Familie?«
»Genau! Dort wohnen die Davanals. Ich kenne ihre Adresse; die kennt jeder.« In Miami war es praktisch unmöglich, nicht über diesen Namen zu stolpern. Davanal's war eine über ganz Florida verbreitete Warenhauskette. Außerdem gehörte der Familie ein Fernsehsender, den Felicia Maddox-Davanal selbst leitete. Darüber hinaus war die ursprünglich aus Mitteleuropa stammende Familie, die jedoch seit dem Ersten Weltkrieg in Florida ansässig war, politisch und finanziell sehr angesehen und mächtig. Die Medien bezeichneten die Davanals manchmal als »das Königshaus Miamis«, und ein weniger wohlwollender Kommentator hatte einmal hinzugefügt: »Und sie benehmen sich auch so.«
Ein Telefon klingelte. Rodriguez meldete sich, dann gab er den Hörer an Ainslie weiter. »Sergeant Clemente aus der Zentrale.«
»Wir sind dran, Harry«, sagte Ainslie. »Der Streifenwagen hat uns angefordert. Wir fahren gleich hin.«
»Der Erschossene ist Byron Maddox-Davanal, der Schwiegersohn. Seine Frau hat neuneinseins angerufen. Du kennst die Geschichte mit dem Namen?«
»Welche?«
»Er hat schlicht Maddox geheißen, als er Felicia geheiratet hat. Ihre Familie hat auf der Namensänderung bestanden. Hat den Gedanken nicht ertragen können, daß der Name Davanal eines Tages verschwinden würde.«
»Danke. Jedes bißchen Information kann nützen.«
Ainslie legte den Hörer auf und erklärte Rodriguez: »Diesmal beobachten uns viele einflußreiche Leute, Jorge, deshalb dürfen wir keinen Fehler machen. Sie gehen voraus, holen einen Wagen und warten unten auf mich. Ich informiere den Lieutenant.«
Newbold, der gerade zum Dienst gekommen war, sah auf, als Ainslie hereinkam. »Was gibt's, Malcolm?«
»Byron Maddox-Davanal scheint in der Villa der Familie ermordet worden zu sein. Ich bin dorthin unterwegs.«
Lieutenant Newbold starrte ihn an. »O Gott! Ist das nicht Felicia Davanals Ehemann?«
»Das ist er. Oder gewesen.«
»Und sie ist die Enkelin des alten Davanal, nicht wahr?«
»Richtig. Sie hat neuneinseins angerufen. Ich wollte Sie nur rechtzeitig informieren.« Newbold griff nach dem Telefonhörer.
»Sieht wie das Schloß eines Feudalherren aus«, stellte Jorge fest, als sie in ihrem neutralen Dienstwagen auf den imposanten Familiensitz der Davanals zufuhren.
Das Haus mit seinen Türmen, Erkern und Spitzgiebeln stand auf einem fast eineinhalb Hektar großen Grundstück. Das von einer hohen Mauer aus Steinquadern mit festungsähnlichen Eckbastionen umgebene Ensemble wirkte fast mittelalterlich.
»Mich wundert nur, daß Burggraben und Zugbrücke fehlen«, sagte Ainslie.
Hinter der Villa lag die Biscayne Bay, die weiter draußen in den Atlantik überging.
Die Zufahrt zu dem von der Straße aus nur teilweise sichtbaren weitläufigen Gebäudekomplex wurde durch ein geschmackvolles schmiedeeisernes Tor mit dem Familienwappen auf beiden Flügeln gesichert. Im Augenblick war das Tor geschlossen, aber dahinter war eine lange Einfahrt zu erkennen, die sich in Kurven zum Haus wand.
»Verdammt, nicht schon jetzt!« rief Ainslie aus, weil er den Übertragungswagen einer Fernsehstation vor ihnen herfahren sah. Leute aus der Medienbranche, die laufend den Polizeifunk abhörten, mußten die Adresse der Davanals erkannt haben. Aber dann sah er, daß es ein Übertragungswagen der Station WBEQ war, die der Familie Davanal gehörte. Vielleicht hat jemand aus dem Haus den Reportern einen Tip gegeben, damit sie als erste da waren, sagte er sich.
In Tornähe standen drei Streifenwagen mit eingeschalteten Blinkleuchten. Wagen 174 mußte Verstärkung angefordert haben, oder weitere Fahrzeuge waren von sich aus hergekommen - vermutlich letzteres. Cops konnten verdammt neugierig sein, das wußte Ainslie. Am Tor gab es anscheinend eine Auseinandersetzung zwischen zwei uniformierten Polizisten und dem Fernsehteam mit der attraktiven schwarzen Reporterin Ursula Felix, einer alten Bekannten Ainslies. Die Einfahrt war bereits mit gelbem Plastikband abgesperrt, aber ein uniformierter Beamter, der Ainslie und Rodriguez erkannte, machte Platz, damit sie durchfahren konnten.
Jorge wollte wieder Gas geben, aber die Reporterin blockierte die Durchfahrt. Ainslie ließ sein Fenster herunter. »Hey, Malcolm«, sagte sie bittend, »bringen Sie diese Kerle zur Vernunft! Mrs. Davanal möchte uns drinnen haben; sie hat deswegen selbst angerufen. WBEQ ist die Station der Davanals, und wir brauchen unbedingt einen Bericht für die Morgennac hrichten.«
Während sie das sagte, beugte Ursula Felix sich zu Ainslie hinunter. Ihr voller Busen, der durch eine hautenge Seidenbluse noch betont wurde, war so nah, daß Ainslie ihn hätte berühren können. Ihr rabenschwarzes Haar war zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, und ihr schweres Parfüm drang in das Wageninnere.
Es hat also einen Tip aus dem Haus gegeben, sagte Ainslie sich - und nicht nur von irgend jemandem. Felicia Maddox-Davanal hatte selbst angerufen, obwohl sie offenbar erst wenige Minuten zuvor Witwe geworden war.
»Hören Sie, Ursula«, sagte er, »das hier ist ein Tatort, und Sie kennen unsere Vorschriften. Wir haben einen PIO angefordert, der Ihnen dann mitteilt, was wir zur Veröffentlichung freigeben können.«
Ein Kameramann hinter der Reporterin warf ein: »Wenn's um ihr Eigentum geht, läßt Mrs. Davanal sich keine Vorschriften machen, und auf beiden Seiten des Tors gehört alles der Familie.« Seine Handbewegung umfaßte die Villa und den Übertragungswagen.
»Und die Lady verlangt, daß ihre Leute spuren«, fügte Ursula hinzu. »Kommen wir nicht durch, schmeißt sie uns vielleicht raus.«
»Okay, ich denke daran.« Ainslie nickte Jorge zu, er solle weiterfahren.
»Sie leiten die Ermittlungen«, teilte er Jorge mit, »aber ich arbeite eng mit Ihnen zusammen.«
»Ja, Sergeant.«
Kies knirschte unter ihren Reifen, als sie der von hohen Palmen gesäumten Einfahrt folgten und neben dem vor der Villa geparkten weißen Bentley hielten. Ein Flügel des imposanten Portals stand offen. Als die beiden Kriminalbeamten ausstiegen, wurde die Haustür ganz geöffnet, und ein großgewachsener Mann Anfang Fünfzig erschien. Seine würdevolle Haltung und die untadelige Kleidung verrieten den Butler. Nach einem kurzen Blick auf ihre Polizeiplaketten sprach er sie mit britischem Akzent an.
»Guten Morgen, Officers. Bitte folgen Sie mir.« In der geräumigen, mit kostbaren Antiquitäten ausgestatteten Eingangshalle drehte er sich nach ihnen um. »Mrs. Maddox-Davanal telefoniert gerade. Sie läßt Sie bitten, hier auf sie zu warten.«
»Nein«, widersprach Ainslie energisch. »Wir haben die Meldung bekommen, hier sei jemand erschossen worden. Wir gehen sofort zum Tatort.« Rechts führte ein mit Teppichboden ausgelegter Korridor in einen Seitenflügel des Hauses; fast am Ende stand ein uniformierter Polizeibeamter, der jetzt rief: »Der Tote liegt hier!«
Als Ainslie hingehen wollte, wandte der Butler ein: »Mrs. Maddox-Davanal hat ausdrücklich darum gebeten, daß Sie...«
Ainslie blieb stehen. »Wie heißen Sie?«
»Ich bin Mr. Holdsworth.«
»Vorname?« fragte Jorge, der sich bereits Notizen machte.
»Humphrey. Aber Sie müssen bitte einsehen, daß dieses Haus... «
»Nein, Holdsworth«, unterbrach Ainslie ihn, »Sie müssen etwas einsehen. Dieses Haus ist jetzt ein Tatort, an dem die Polizei das Sagen hat. Viele unserer Leute werden kommen und gehen. Behindern Sie sie nicht, aber bleiben Sie hier, damit wir Sie später vernehmen können. Und verändern Sie vor allem nichts. Ist das klar?«