Sie bot ihm mit einer Handbewegung wortlos einen vor ihr stehenden Louisquinze-Stuhl an - ein nicht sehr stabil wirkendes und entschieden unbequemes Sitzmöbel, wie er amüsiert feststellte. Falls sie ihn damit in seine Schranken weisen wollte, stand ihr eine Überraschung bevor.
Wie bei jedem Gespräch mit Hinterbliebenen begann Ainslie: »Ich möchte Ihnen mein Beileid zum Tod Ihres... «
»Danke, das ist nicht nötig.« Davanals Stimme klang ruhig und beherrscht. »Mit den persönlichen Dingen werde ich allein fertig. Beschränken wir uns also aufs Dienstliche. Sie sind Sergeant, glaube ich.«
»Detective-Sergeant Ainslie.« Er hätte beinahe »Ma'am« hinzugefügt, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. Auch er beherrschte dieses Dominanzspiel.
»Nun, als erstes möchte ich wissen, warum ein Team meiner eigenen Fernsehstation daran gehindert worden ist, dieses Haus zu betreten, das ebenfalls uns Davanals gehört.«
»Mrs. Maddox-Davanal«, sagte Ainslie ruhig, aber bestimmt, »ich will Ihre Frage aus Höflichkeit beantworten, obwohl Sie die Antwort bestimmt längst kennen. Aber danach übernehme ich die Führung dieses Gesprächs.« Während er sprach, war er sich bewußt, daß ihre kühlen grauen Augen ihn unverwandt aussahen. Ainslie erwiderte ihren Blick gelassen.
»Nun zu der Sache mit dem Fernsehteam«, fuhr er fort. »In diesem Haus hat sich ein bisher ungeklärter Todesfall ereignet, und unabhängig davon, wem es gehört, sind die Anordnungen der Polizei zu befolgen. Und die Medien - sämtliche Reporter von Mordermittlungen fernzuhalten, ist das übliche und rechtmäßige Verfahren. Nachdem dieser Punkt geklärt ist, möchte ich jetzt bitte alles hören, was Sie über den Tod Ihres Mannes wissen.«
»Augenblick!« Ein eleganter Zeigefinger schien ihn durchbohren zu wollen. »Wer ist Ihr Vorgesetzter?«
»Detective-Lieutenant Leo Newbold.«
»Bloß ein Lieutenant? Angesichts Ihrer Einstellung, Sergeant, und bevor Sie weiterfragen, werde ich den Polizeipräsidenten anrufen.«
Aus heiterem Himmel war eine unerwartete Konfrontation entstanden. Aber das kam gelegentlich vor, denn plötzlicher Streß, vor allem durch gewaltsamen Tod, wirkte sich bei manchen Leuten so aus. Dann erinnerte er sich an Officer Navarros Kommentar: Die Lady ist es gewöhnt, alles und jeden unter Kontrolle zu haben, und kann andere Verhältnisse nicht leiden.
»Madam«, sagte Ainslie, »ich begleite Sie sofort zu einem Telefon, damit Sie Chief Ketledge anrufen können, was Ihr gutes Recht ist.« Er legte einen stählernen Unterton in seine Stimme. »Aber wenn Sie mit ihm sprechen, können Sie ihm mitteilen, daß ich Sie sofort nach diesem Telefongespräch in meine Dienststelle abführe - und das heißt mit Handschellen gefesselt -, weil Sie sich weigern, sich an den Ermittlungen zur Aufklärung des gewaltsamen Todes Ihres Ehemanns zu beteiligen.«
Sie starrten sich an. Davanal atmete schwer, ihr Mund war ein schmaler Strich, ihre Augen funkelten haßerfüllt. Schließlich sah sie weg, hob dann erneut den Kopf und sagte leiser: »Stellen Sie Ihre Fragen.«
Ainslie, dem sein dialektischer Sieg keinen rechten Spaß machte, fragte mit normaler Stimme: »Wann und wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes erfahren?«
»Heute morgen kurz vor halb acht. Ich bin ins Schlafzimmer meines Mannes gegangen, das im gleichen Stockwerk wie meines liegt, weil ich ihn etwas fragen wollte. Als ich ihn nicht angetroffen habe, bin ich in sein Arbeitszimmer im Erdgeschoß gegangen - er steht oft früh auf und geht dort hinunter. Ich habe seine Leiche so aufgefunden, wie Sie sie gesehen haben, und sofort die Polizei gerufen.«
»Was wollten Sie Ihren Mann fragen?«
»Wie bitte?« Seine überraschende Frage schien Davanal so zu verwirren, daß Ainslie sie wiederholte.
»Ich... ich wollte...« Sie schien nach Worten zu suchen. »Das weiß ich wirklich nicht mehr.«
»Gibt's eine Verbindungstür zwischen den beiden Schlafzimmern?«
»Äh... nein.« Eine verlegene Pause. »Das sind eigenartige Fragen.«
Nicht so eigenartig, dachte Ainslie. Erstens gab es keine plausible Erklärung dafür, warum Davanal zu ihrem Ehemann gegangen war. Zweitens sagte das Fehlen einer Verbindungstür einiges über das Verhältnis der beiden aus. »Ihr Mann scheint an einer Schußverletzung gestorben zu sein. Haben Sie einen Schuß oder ein Geräusch gehört, das ein Schuß hätte sein können?«
»Nein, ich habe nichts gehört.«
»Ihr Mann könnte also schon längere Zeit tot gewesen sein, als Sie ihn aufgefunden haben?«
»Das nehme ich an.«
»Hatte Ihr Mann größere Probleme oder Feinde? Fällt Ihnen irgend jemand ein, der ihn vielleicht hätte töten wollen?«
»Nein.« Mrs. Maddox-Davanal, die ihre Beherrschung zurückgewonnen hatte, fuhr fort: »Was ich Ihnen jetzt erzähle, würden Sie früher oder später ohnehin erfahren. In mancher Beziehung haben mein Mann und ich uns nicht sonderlich nahegestanden; er hat seine Interessen gehabt, ich habe meine, sie sind nicht deckungsgleich gewesen.«
»Hat dieses Arrangement schon lange bestanden?«
»Seit ungefähr sechs Jahren; wir haben vor neun Jahren geheiratet.«
»Hat's zwischen Ihnen oft Streit gegeben?«
»Nein.« Sie verbesserte sich. »Nun, wir haben uns manchmal wegen irgendwelcher Bagatellen gestritten - aber eigentlich nie über wichtige Dinge.«
»Hat einer von Ihnen eine Scheidung erwogen?«
»Nein. Unser Arrangement hat beide zufriedengestellt. Für mich hat die Ehe bestimmte Vorteile gehabt; in gewisser Beziehung hat sie mir eine Art Freiheit gegeben. Und was Byron betrifft, hat er genau gewußt, daß er's ziemlich gut getroffen hatte.«
»Würden Sie mir das bitte erklären?«
»Bevor wir geheiratet haben, ist Byron ein sehr attraktiver und beliebter Mann gewesen, aber er hatte weder viel Geld noch gute Berufsaussichten. Nach unserer Hochzeit ist in beiden Punkten Abhilfe geschaffen worden.«
»Könnten Sie das erläutern?«
»Er hat wichtige Managerposten erhalten - erst bei unserer Warenhauskette Davanal's, dann bei unserer Fernsehstation WBEQ.«
»Hat er zuletzt noch einen dieser Posten innegehabt?« erkundigte Ainslie sich.
»Nein.« Davanal zögerte, bevor sie weitersprach. »Ehrlich gesagt, hat Byron unsere Erwartungen nicht erfüllt - er ist faul und unfähig gewesen. Wir haben ihn schließlich völlig aus der Geschäftsführung herausnehmen müssen.«
»Und danach?«
»Die Familie hat Byron einfach ein Taschengeld zugestanden. Darum habe ich vorhin gesagt, er habe gewußt, daß er's ziemlich gut getroffen hatte.«
»Würden Sie mir sagen, wie hoch dieses Taschengeld gewesen ist?«
»Ist das erheblich?«
»Wahrscheinlich nicht. Ich denke allerdings, daß die Zahl im Lauf unserer Ermittlungen ohnehin auf den Tisch kommt.«
Daraufhin herrschte sekundenlang Schweigen, bevor Davanal sagte: »Byron hat zweihundertfünfzigtausend Dollar pro Jahr bekommen. Außerdem hat er hier umsonst gelebt, und seine Fitnessgeräte, in die er so vernarrt gewesen ist, sind auch bezahlt worden.«
Eine Viertelmillion Dollar, dachte Ainslie, und das fürs Nichtstun. Da die Familie Davanal nun nichts mehr zahlen mußte, würde sie von Byron Maddox-Davanals Tod profitieren.
»Wenn Sie denken, was ich annehme«, sagte Mrs. Maddox-Davanal, »vergessen Sie's!« Als er keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Hören Sie, ich will weder Zeit noch Worte vergeuden - für unsere Familie sind solche Beträge Peanuts.« Sie machte eine Pause. »Der entscheidende Punkt ist, daß ich Byron gern um mich gehabt habe, obwohl ich ihn nicht mehr liebte - schon lange nicht mehr. Man könnte sogar sagen, daß er mir fehlen wird.«