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Malcolm Ainslie, der kurz hinter Fort Lauderdale eingenickt war, schreckte durch einen dumpfen Schlag hoch - vielleicht von einem überfahrenen Waschbären, deren Kadaver häufig auf der Fahrbahn lagen. Er reckte sich, setzte sich auf und sah auf die Uhr: zehn Minuten nach Mitternacht. Vor sich erblickte er die Ausfahrt West Palm Beach, was bedeutete, daß sie ungefähr ein Drittel der Strecke nach Orlando zurückgelegt hatten.

Ainslie griff nach dem Telefon und tippte Lieutenant Newbolds Nummer ein. Als er sich meldete, sagte Ainslie: »Guten Abend, Sir. Hier sind Miamis Beste.«

»Hey, Malcolm. Alles in Ordnung?«

Ainslie sah nach links. »Der verrückte Kubaner hat uns noch nicht umgebracht.«

Newbold lachte halblaut. »Ich habe mich nach Flügen erkundigt und einen Platz für Sie reservieren lassen. Ich glaube, Sie können morgen nachmittag in Toronto sein.«

»Wunderbar, Lieutenant. Danke!« Er notierte sich die Einzelheiten: Um 10.05 Uhr mit Delta Airlines von Jacksonville nach Atlanta, von dort mit Air Canada weiter nach Toronto.

Ainslie war erleichtert, denn auf diese Weise würde er nur knapp zwei Stunden später als geplant in Toronto eintreffen. Ideal war das nicht, weil Karens Eltern, die über eine Autostunde vom Pearson Airport entfernt wohnten, schon zum Mittagessen eingeladen hatten. Das würde er versäumen, aber wenigstens war er abends zum großen Familiendinner da.

Newbold fuhr fort: »Rodriguez soll Sie morgen nach Jacksonville fahren. Dorthin sind's nur sechzig Meilen; die schaffen Sie leicht. Und wenn Sie zurückkommen, sehen wir uns Ihre zusätzlichen Reisekosten an und finden eine Lösung.«

»Vielleicht beschwichtigt das Karen.«

»Sie ist wütend gewesen, was?« fragte Newbold.

»Das könnte man sagen.«

Der Lieutenant seufzte. »Devina ist auch sauer, wenn mein Dienst uns einen Strich durch pivate Pläne macht, und ich kann's ihr nicht mal verübeln.« Newbold wechselte das Thema. »Ich habe das Staatsgefängnis angerufen. Sie haben zugesagt, auf alle Besucherformalitäten zu verzichten, damit Sie möglichst schnell zu Animal kommen.«

»Danke.«

»Sie sollen sich nur vorher anmelden. Wenn Sie noch ungefähr zwanzig Minuten bis Raiford haben, rufen Sie Lieutenant Neil Hambrick an. Hier ist seine Durchwahlnummer.«

Ainslie schrieb sich die Telefonnummer auf. »Wird gemacht, Lieutenant. Noch mal vielen Dank.«

»Gute Reise und viel Spaß in Toronto.«

Als Ainslie das Mobiltelefon ausschaltete, dachte er über das ausgezeichnete Verhältnis zwischen Leo Newbold und seinen weißen Untergebenen nach. Wie die meisten Kollegen mochte und respektierte er Newbold, der seit vierundzwanzig Jahren bei der Polizei war, nachdem er als Fünfzehnjähriger mit seinen Eltern aus Jamaika eingewandert war. Leo Newbold hatte an der University of Miami Kriminologie studiert und war als Zweiundzwanzigjähriger zur Polizei gegangen. Als Schwarzer war er in den achtziger Jahren bevorzugt befördert worden, aber im Gegensatz zu ähnlichen Fällen erregte das wegen seiner offenkundigen Fähigkeiten nicht den Neid seiner weißen Kollegen. Jetzt war Newbold im achten Dienstjahr als Chef der Mordkommission tätig.

Zu Malcolms Überraschung schlief Karen, als er anrief, um ihr zu erzählen, wie er nach Toronto kommen würde. »Wir sehen uns also morgen nachmittag gegen vier Uhr«, fügte er hinzu.

»Das glaube ich erst, wenn du vor mir stehst«, murmelte sie verschlafen, aber offenbar wieder besänftigt.

Als Ainslie das Telefon ausschaltete und sich zurücklehnte, unterbrach Jorge seine Gedanken.

»Sergeant, sind Sie noch immer katholisch?«

Diese Frage kam unerwartet. »Wie bitte?«

Jorge überholte eben einen der vielen Sattelschlepper, die sich auf dem Turnpike befanden. Als sie daran vorbei waren, fuhr er fort: »Sie sind Geistlicher gewesen, aber jetzt sind Sie's nicht mehr. Deshalb bin ich neugierig - sind Sie noch immer Katholik?«

»Nein.«

»Nun, ich habe mich gefragt, wie einem als Katholiken oder ehemaligem Katholiken bei dieser Fahrt zumute sein muß -Todesstrafe, ein letzter Besuch bei Animal Doil, bevor er auf den Stuhl kommt, das Bewußtsein, daß vor allem Sie ihn dorthin gebracht haben?«

»Das ist so spät nachts eine schwierige Frage.«

Jorge zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie nicht darüber reden möchten... Okay, das verstehe ich.«

Ainslie zögerte. Er hatte den Priesterberuf nach Seminarausbildung, Philosophiestudium mit Promotion und fünf Jahren als Gemeindepfarrer mit dreißig an den Nagel gehängt, und damit auch seinen Glauben. Um niemanden zu beeinflussen, hatte er anfangs nur mit engen Freunden über seine Motive gesprochen. Aber ein Jahrzehnt später war er eher bereit, Fragen zu beantworten.

»Cops und Priester sind sich in vieler Beziehung ähnlich«, erklärte er Jorge. »Ein Geistlicher versucht Menschen zu helfen, strebt nach Ausgleich und Gerechtigkeit - oder sollte es zumindest tun. In unserem Beruf will man, daß Mörder gefaßt werden und ihre gerechte Strafe erhalten.«

»Yeah, natürlich. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Ich bin ein Cop. Wie viele Cops in Amerika sind wirklich gegen die Todesstrafe? Zwei? Vielleicht drei? Aber ich bin auch katholisch. Und die Kirche ist gegen die Todesstrafe.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Jorge. Die meisten Religionen sind unter der Oberfläche heuchlerisch, weil sie die Tötung von Menschen billigen, wenn sie einem bestimmten Zweck dient - beispielsweise im Krieg. Und jedes Land, das in den Krieg zieht, glaubt Gott auf seiner Seite zu haben.«

Jorge lachte. »Na, hoffentlich steht er auf meiner Seite.«

»Bei Ihrem Lebenswandel ist das höchst unwahrscheinlich.«

»Wieso?« fragte Jorge. »Sie haben Ihren Priesterkragen abgelegt, nicht ich. Kann mir nicht vorstellen, daß Sie auf der Topten-Liste des Papstes stehen.«

Ainslie lächelte. »Nun, dafür stehen auf meiner nicht allzu viele Päpste.« Er wurde wieder ernst. »Was Ihre ursprüngliche Frage betrifft: Mir ist die Tötung von Menschen schon als Priester zuwider gewesen, und daran hat sich nichts geändert. Aber ich bin gesetzestreu, und solange das Gesetz die Todesstrafe vorsieht, finde ich mich mit ihr ab.«

Während er das sagte, erinnerte er sich an die wenigen - nach Ansicht der Staatsanwaltschaft lauter Spinner -, die darauf beharrten, daß Elroy Doil aufgrund seiner hartnäckigen Unschuldsbeteuerungen als nicht überführt zu gelten habe. Ainslie war anderer Meinung. Seiner Überzeugung nach war Doils Schuld bewiesen, aber er fragte sich wieder, was der Todeskandidat noch gestehen wollte.

»Bleiben Sie dort, um bei Animals Hinrichtung dabeizusein?« fragte Jorge.

»Hoffentlich nicht. Warten wir ab, was passiert.«

Nach kurzer Pause sagte Jorge: »Die Kollegen erzählen, Sie hätten ein Buch geschrieben, ein theologisches Standardwerk, ist millionenfach verkauft worden, hab' ich gehört. Hoffentlich hat's Ihnen auch Millionen eingebracht.«

Ainslie lachte. »Als Mitverfasser eines Buches über vergleichende Religionswissenschaft wird man nicht reich. Ich habe keine Ahnung, wie viele Exemplare der Verlag davon verkauft hat, obwohl es in mehrere Sprachen übersetzt worden ist und noch heute in den meisten Bibliotheken steht.«

Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 2.15 Uhr an. »Wo sind wir?« fragte Ainslie, der erneut eingenickt war.

»Eben an Orlando vorbei, Sergeant.«

Ainslie erinnerte sich an andere, geruhsamere Fahrten auf diesem Streckenabschnitt. Auf den achtzig Kilometern von Orlando bis Wildwood war der Turnpike offiziell die Panoramastraße. Dort draußen im Dunkel lagen sanfte Hügel mit Wildblumen, hohen Tannenhainen und stillen Seen, riesige Weideflächen mit grasenden Kühen, Orangenplantagen, deren Bäume um diese Jahreszeit voller Früchte hingen.

»Sind Sie müde?« fragte er Jorge. »Soll ich Sie ablösen?«