»Die meisten Leute sind nur fünf bis sechs Jahre bei der Mordkommission«, erklärte Yanis ihr ernsthaft, »bevor sie befördert oder auf eigenen Wunsch versetzt werden. Der Streß ist zu groß. Aber ich bin geradezu süchtig danach. Ich bleibe hier, bis sie mich irgendwann raustragen, und ich erinnere mich an alte Fälle wie den der Ikeis und freue mich, wenn sie eines Tages abgeschlossen werden können. Fangen wir also an, auf dem Friedhof zu graben! Ich tue das nicht zum erstenmal.«
Sergeant Clemson schaltete den Lautsprecher seines Telefons ein, damit die anderen sein Gespräch mit einem Staatsanwalt mithören konnten. Als er dem Staatsanwalt beschrieben hatte, worum es ging, wurde sein Tonfall kompromißlos streng.
»Ja, Sergeant, ich weiß natürlich, daß wir nicht von einer Exhumierung reden. Tatsache ist jedoch, daß Sie in keinem Menschengrab ohne richterliche Anordnung graben dürfen -selbst wenn Sie das Messer noch so dicht unter der Oberfläche vermuten.«
»Spricht irgendwas dagegen, daß wir e~st nachsehen, ob es dieses Grab überhaupt gibt?«
»Vermutlich nicht, solange es sich um offizielle Ermittlungen handelt. Aber seien Sie diskret! Bei Gräbern sind die meisten Leute sehr empfindlich; jede Störung wird als Verletzung der Intimsphäre oder als noch Schlimmeres empfunden.«
Danach wies Clemson Yanis an: »Sandy, du stellst fest, ob es auf diesem Friedhof ein Grab gibt, auf dem der Name Doil steht. Findest du eins, kannst du mit deiner eidesstattlichen Versicherung zu einem Richter gehen und eine Exhumierungserlaubnis beantragen.« Clemson wandte sich an Ruby. »Das wird ein paar Tage dauern, vielleicht sogar länger, aber wir versuchen, die Sache möglichst zu beschleunigen.«
Ruby Bowe fuhr mit Yanis zum städtischen Liegenschaftsamt, wo sie einen Termin bei Ralph Medina hatten, in dessen Zuständigkeitsbereich der alte Friedhof Marti Cemetery lag. Medina, ein freundlicher kleiner Beamter Anfang Fünfzig, erklärte ihnen: »Marti erfordert nicht viel Verwaltungsarbeit, höchstens vier bis fünf Prozent meiner Arbeitszeit. Gut ist vor allem, daß wir sehr ruhige Mieter haben, die sich nie beschweren.« Er lächelte über seinen eigenen Scherz. »Wenn ich kann, helfe ich Ihnen natürlich gern.«
Ruby erläuterte den Grund ihres Besuchs - Elroy Doils Geständnis unmittelbar vor der Hinrichtung - und worum es ihnen ging. Dann erkundigte sie sich, wie viele Personen dieses Namens auf dem Friedhof bestattet seien.
»Wie schreibt man den Namen?«
»Doil.«
Medina holte einen dicken Band aus einem Regal, fuhr mit dem Zeigefinger mehrere Listen hinunter und schüttelte dann den Kopf. »Den Namen gibt's hier nicht. Dort ist niemals jemand dieses Namens bestattet worden.«
»Was ist mit ähnlichen Namen?« fragte Yanis.
»Der Name Doyle kommt mehrmals vor.«
»Wie oft?«
Medina sah wieder in seine Listen. »Dreimal.«
Yanis wandte sich an Ruby. »Was halten Sie davon?«
»Ich weiß nicht recht. Doil hat gesagt: >Derselbe Familienname wie meiner!< Und der Gedanke, auf Verdacht in drei Gräbern herumzubuddeln...« Sie schüttelte den Kopf.
»Yeah, ich weiß, was Sie meinen. Mr. Medina, wann sind hier drei Doyles beerdigt worden?«
Der städtische Beamte brauchte einige Minuten, um die Daten herauszusuchen. »Der erste 1903, ein weiterer 1971, der letzte 1986.«
»Den dritten können wir abhaken; das ist sechs Jahre nach der Ermordung der Ikeis gewesen. Was die beiden anderen betrifft haben Sie noch Verbindung zu den Angehörigen?«
Medina wühlte sich nochmals durch Register, Akten und vergilbte Schriftstücke, bevor er feststellte: »Nein, Kontakte gibt es keine mehr. Bei diesem ersten Bestattungsfall ist das nicht verwunderlich; schließlich liegt er Jahrzehnte zurück. Nach der zweiten Beerdigung hat's noch einen Briefwechsel gegeben, aber danach hat die Familie sich nie mehr gemeldet.«
»Sie könnten also keine Angehörigen der Verstorbenen mehr ermitteln, selbst wenn Sie wollten?« fragte Yanis weiter.
»Nein, wahrscheinlich nicht.«
»Und Sie würden keine Einwände erheben, wenn wir mit einer richterlichen Anordnung kämen, die uns gestattet, diese Gräber ungefähr einen Viertelmeter tief aufzugraben?«
»Gegen eine richterliche Anordnung gäbe es natürlich keine Einwände.«
Bis die letzten Hürden überwunden waren, vergingen zwei volle Tage. Der Staatsanwalt setzte eine eidesstattliche Versicherung und eine richterliche Anordnung auf, die der Polizei gestatten würde, die beiden Gräber oberflächlich zu öffnen. Detective Yanis und Ruby Bowe gingen damit zu einem Richter, der Sandy Yanis kannte und die Anordnung nach kurzer Diskussion unterschrieb.
Das Grabungsteam, das sich am nächsten Morgen um sieben Uhr auf dem Friedhof versammelte, bestand aus vier Kriminalbeamten - Yanis, Jasmund, Bowe und Detective Andy Vosko, den das Raubdezernat abgestellt hatte - und drei Personen von der Spurensicherung in Uniform. Außerdem war Ralph Martin vom städtischen Liegenschaftsamt gekommen -»Bloß um mein Revier im Auge zu behalten«, wie er sagte -, und ein Polizeifotograf machte Aufnahmen von den beiden Gräbern mit dem Namen Doyle.
Neben dem ersten Grab waren die benötigten Gerätschaften aufgestapelt: Bretter, mehrere Schaufeln, Spaten und Pflanzschaufeln, Schnurrollen und zwei aufstellbare Drahtsiebe.
Die Ausrüstung des Spurensicherungsteams war in Kisten und Ledertaschen verstaut. Ebenfalls aufgereiht massenweise Mineralwasserflaschen. »Die sind bis heute abend leer«, kündigte Yanis an. »Heute wird's nämlich verdammt heiß.« Obwohl es offiziell noch Winter war, kletterte die Sonne am wolkenlosen Himmel schon höher, und auch die Luftfeuchtigkeit stieg bereits an.
Alle trugen weisungsgemäß alte Sachen - meistens Overalls und Gummistiefel - und hatten Arbeitshandschuhe mitgebracht. Shirley Jasmund hatte Ruby ihre weitesten alten Jeans geliehen, die jedoch an der Taille und im Schritt zwickten.
Zuerst sollte das ältere Grab geöffnet werden, in dem ein gewisser Eustace Maldon Doyle lag, der im Jahr 1903 gestorben war, wie auf dem verwitterten Grabstein zu lesen stand. »Hey, das ist das Jahr, in dem die Brüder Wright zum erstenmal geflogen sind«, sagte jemand.
»Dies ist der älteste Teil des Friedhofs«, bestätigte Yanis. »Hier sind wir dem Haus, in dem die Ikeis ermordet worden sind, am nächsten.«
Unter Anleitung des Spurensicherungs-Sergeant wurden als erstes sechs Bretter zu einem zweieinhalb mal eineinhalb Meter großen Rahmen zusammengenagelt. Dieser aufs Grab gelegte Holzrahmen markierte die Grenzen des Grabungsbereichs. Er wurde so mit Schnüren überspannt, daß fünfzehn Quadrate mit je fünfzig Zentimeter Seitenlänge entstanden. Auf diese Weise konnte ein Quadrat nach dem anderen untersucht werden, und jeder Fund ließ sich genau lokalisieren.
Aber werden wir überhaupt etwas finden? fragte Ruby Bowe sich. Trotz aller Aktivität um sie herum hatten ihre Zweifel sich seit ihrer Ankunft auf dem Friedhof eher verstärkt. Der Name auf diesem Grabstein war nicht genau der, von dem Elroy Doil gesprochen hatte. Außerdem war Doil ein notorischer Lügner gewesen - hatte er seinen Friedhofsbesuch vielleicht nur erfunden? Dann riß die Stimme des Sergeant der Spurensicherung sie aus ihren trübseligen Gedanken.
»Jetzt seid ihr dran, Sandy«, erklärte er Yanis. »Wir sind hier die Gurus. Ihr seid die Kettensträflinge.«
»Zu Diensten, Boß.« Yanis griff selbst nach einem Spaten und forderte die Kriminalbeamten auf: »Okay, jeder nimmt sich irgendein Quadrat vor.« Ruby und ihre drei Kollegen aus Tampa folgten seinem Beispiel und verteilten sich gleichmäßig über den Grabungsbereich.
»Wir graben zuerst nur fünfzehn Zentimeter tief«, ordnete Yanis an. »Finden wir nichts, gehen wir fünfzehn Zentimeter tiefer.«